Leitartikel18. Juni 2024

»Wer nichts zu verbergen hat…«?

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In die festgefahrene Diskussion um eine Kontrolle von privaten Messenger-Chats, also über Kanäle wie WhatsApp, Facebook-Messenger, Telegram, etc., kommt nun offenbar wieder Bewegung. Lange Zeit hatten nicht wenige EU-Staaten Bedenken gegen ein solches Mitlesen der EU-Autoritäten im »Kampf gegen Schwerstkriminalität«. Ein Schelm, wer denkt, daß eine Überwachungs-Infrastruktur aufgebaut und dann ausschließlich für derartige Zwecke benutzt wird. Etwa so unglaubwürdig, wie die Einführung einer Struktur für CBDC (»Central Bank Digital Currency«) wie den digitalen Euro, ohne die Möglichkeiten der Geldflußsteuerung und -Überwachung zu nutzen.

Die EU-Ratspräsidentschaft Belgiens neigt sich dem Ende zu, und offenbar will man in allerletzter Minute im Dossier noch Vollzug melden können. Ein neuer Vorschlag ist nun, die Anbieter solcher Chatprogramme dazu zu verpflichten, ihre Nutzer mit einem sogenannten »Client Side Scanning« zu überwachen. Der Clou dabei: Es schaut nicht nach staatlicher Überwachung aus, da der Nutzer selbst einem Screening seiner Beiträge zustimmen muß. Die Verhandlungen zum Thema laufen seit langem hinter dicken EU-Mauern, und offenbar sollen Abschwächungen in Ausformulierungen sowie eben das Weitergeben der Entscheidung zur Überwachung in eine aktive Zustimmung des Kunden dazu führen, daß auch die letzten Gegner einer solchen Überwachung ihr Veto fallen lassen.

Dieses Zustimmungsprinzip sei nicht nur ein fundamental falsches Verständnis von Massenüberwachung, sondern auch geltenden EU-Rechts. Denn eine Einwilligung in die Datenverarbeitung müsse freiwillig erteilt werden und könne nicht mit der Drohung erzwungen werden, daß ohne diese Zustimmung keine Bilder mehr mit der Familie geteilt und keine Links mehr an Kollegen geschickt werden könnten, wie der Chaos Computer Club in Deutschland erklärt. Und weiter: Big-Tech-Plattformen hätten ihre Nutzer jahrelang gezwungen, rechtswidrige Datenverarbeitungspraktiken als Bedingung für die Nutzung ihrer Dienste zu akzeptieren. Mit dem neuesten Text würden die EU-Regierungen buchstäblich zu Nachahmern dieser missbräuchlichen Praktiken und würde Dark Patterns gesetzlich vorschreiben.

Im vergangenen Monat hatte eine Gruppe von Wissenschaftlern in einem offenen Brief vor den geplanten Maßnahmen gewarnt. Ein solches System sei eine Gefahr für die Demokratie und würde die technologische Basis für Massenüberwachung liefern.

Sollten nun auch die letzten Gegner ihren Widerstand gegen die Chatkontrolle fallen lassen, wie es etwa von Frankreich berichtet wird, würde das Projekt in Brüssel in EU-Kommission, EU-Rat und EU-Parlament debattiert. Wie kritisch das Thema ist, zeigt auch der Widerstand des juristischen Dienstes der EU selbst, welcher das Vorhaben noch in diesem Frühjahr als unvereinbar mit der EU-Gesetzgebung sah. Würde es also die Gremien passieren, dürfte sich eine Reihe von juristischen Auseinandersetzungen anbahnen, und erste Messenger-Anbieter drohen bereits mit Rückzug aus der EU.

Im Prinzip wird hier ein weiteres Mal das Feigenblatt fallen gelassen, im Interesse der Menschen zu handeln. Die Privatsphäre aller Menschen im »Kampf gegen Kriminelle« zu opfern, die ihre Geschäfte wohl kaum über haushaltsübliche Nachrichten-Apps abwickeln und schnell andere technische Lösungen parat haben, ist wie das Schießen mit Kanonen auf Spatzen.