Ausland18. April 2023

Frankreichs Gewerkschaften mobilisieren für den 1. Mai

Verfassungsrat befand Rentenreformgesetz für rechtens

von Ralf Klingsieck, Paris

Das Gesetz über »Rentenreform«, das von zwei Dritteln der Franzosen abgelehnt wird, wurde per Veröffentlichung im Amtsblatt am Samstag bereits offiziell in Kraft gesetzt. Am Freitagabend hatte der von den Gewerkschaften angerufene Verfassungsrat den Text im Wesentlichen und vor allem hinsichtlich der Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre für rechtens erklärt.

Allerdings wurden sechs Punkte des Gesetzestextes beanstandet und gestrichen. Nach der Entscheidung des Verfassungsrates hatte der Staatspräsident 14 Tage Zeit, das Gesetz gegenzuzeichnen und damit seine Veröffentlichung zu veranlassen. Daß Emmanuel Macron sich beeilte, dies noch am selben Abend zu tun, werten die Gewerkschaften als »brutale Herausforderung und Provokation«. Als Reaktion darauf haben sie entschieden, Macrons Einladung zu einem Gespräch am heutigen Dienstag im Elysée nicht zu folgen.

Einheitsfront aller großen Gewerkschaften

»Wir werden ihm nicht erlauben, zur Tagesordnung überzugehen und so zu tun, als sei nichts geschehen«, sagte die CGT-Generalsekretärin Sophie Binet. Die Gewerkschaften geben den Widerstand nicht auf, sondern organisieren bereits die Demonstrationen am 1. Mai, die ganz im Zeichen des Kampfes gegen die Rentenreform stehen werden und beispiellosen Umfang annehmen sollen. Diese Mobilisierung dürfte alles übertreffen, was es in dieser Hinsicht in Frankreich seit 1945 gegeben hat, denn erstmals steht dahinter eine Einheitsfront aller großen Gewerkschaften des Landes.

Daß der Verfassungsrat den Winkelzug der Regierung durchgehen ließ, die Rentenreform in einem Nachtragshaushaltsgesetz für die Sozialversicherung unterzubringen und dafür im Parlament das vereinfachte und beschleunigte Bestätigungsverfahren nach Artikel 49.3, 47.1 und 44.3 der Verfassung zu mißbrauchen, ist eine schwere Enttäuschung für die Gewerkschaften. Andererseits hat der »Rat der Weisen«, von dessen neun Mitgliedern je drei durch den Staatspräsidenten sowie die Präsidenten der Nationalversammlung und des Senats berufen werden und unter denen sich mit Laurent Fabius und Alain Juppé je ein ehemaliger Premier einer »linken« und einer rechten Regierung befinden, sechs Artikel des Rentenreformgesetzes zurückgewiesen.

»Das Gesetz in seiner ganzen Brutalität«

Mit denen war vor allem bezweckt gewesen, durch Steuer- und Abgabennachlässe Unternehmen zu motivieren, »Senioren« einzustellen oder sie davon abzuhalten, ihre älteren Beschäftigten bereits Jahre vor dem Renteneintrittsalter aus dem Betrieb und in die Arbeitslosigkeit zu drängen. »Diese Artikel waren von der Regierung unter dem Eindruck der Proteste über die Rentenreform nachträglich in den Text eingefügt worden, um den Schock über das Rentenalter 64 etwas abzufedern«, erklärte der Vorsitzende der Gewerkschaft CFDT, Laurent Berger. »Dadurch, daß diese ‚Zuckerparagraphen‘ wegfallen, steht das Gesetz nun nackt in seiner ganzen Brutalität da.«

Der Gründer der Bewegung La France insoumise, Jean-Luc Mélenchon, schätzte ein: »Statt zur Entspannung der sozialen Krise beizutragen, haben die hinter den Barrieren einer Polizeihundertschaft verschanzten Mitglieder des Verfassungsrates mit ihrer Entscheidung noch zur Verschärfung beigetragen. Sie beweisen damit, daß sie auf der Seite der präsidentiellen Monarchie stehen und nicht auf der des souveränen Volkes. Der Kampf geht weiter und muß noch breitere Kräfte einbeziehen.«

Referendum abgelehnt

Vom Verfassungsrat abgewiesen wurde ein von mehr als 250 Abgeordneten der Opposition eingebrachter Antrag, ein Vorbereitungsverfahren für ein Referendum über die Rentenreform einzuleiten. Damit hoffen die linken Parteien und die Gewerkschaften, die »Rentenreform«, die von einem Großteil der Franzosen abgelehnt wird, noch nachträglich zu Fall bringen zu können. Aufgrund juristischer Mängel war bereits absehbar gewesen, daß dieser Antrag abgewiesen wird. Darum wurde vor Tagen ein »nachgebesserter« zweiter Antrag eingereicht, über den der Verfassungsrat Anfang Mai entscheiden wird.

»Durch ein solches Referendum könnte das Land mit demokratischen Mitteln aus der gegenwärtigen Krise erhobenen Hauptes hervorgehen«, schätzt Fabien Roussel, der Nationalsekretär der Französischen Kommunistischen Partei (PCF), ein.

Die Fraktionsvorsitzende des rechtsextremen Rassemblement National, Marine Le Pen, versucht aus der Empörung über das Verhalten von Macron und seiner Regierung bereits Gewinn für die Präsidentschaftswahl 2027 zu ziehen und erklärt: »Das Volk wird das letzte Wort haben und einen Machtwechsel einleiten, durch den dann auch diese ungerechte Reform hinfällig wird.«