Ausland13. September 2024

Der unerwartete und brutale Absturz eines nationalen Idols

Dutzende Frauen bezeugen Mißbrauch durch den Abbé Pierre

von Ralf Klingsieck, Paris

Er war ein »nationales Idol«, ein »Vorbild der Nächstenliebe und Solidarität mit den Schwächsten«. Daß sich der Abbé Pierre in den Jahren der Nazi-Besetzung in den Reihen der Résistance engagiert und vielen Juden zur Flucht verholfen hat, wußten nur wenige. Auf einen Schlag bekannt und einflußreich wurde er im Februar 1954, als er in diesem extrem kalten Winter in einer Rundfunkansprache auf die unerträgliche Lage der vielen tausend Obdachlosen aufmerksam machte. Von denen erfroren Nacht für Nacht einige der Schwächsten, doch um ihr Schicksal machten sich weder die Behörden und noch die Politiker ernsthaft Gedanken.

Das Echo auf den Appel von Abbé Pierre war gewaltig. Viele tausend Franzosen schickten spontan Geldspenden und der Druck der Öffentlichkeit war so groß, daß überall im Lande Wärmestuben, Suppenküchen und Notunterkünfte eingerichtet wurden. Das Thema des Wohnungsmangels und der schlechten Wohnbedingungen, unter denen jeder dritte Franzose lebte, verschwand von diesem Zeitpunkt an nicht mehr aus der öffentlichen Debatte und kein Politiker wurde mehr gewählt, wenn er sich nicht für eine solidarische Wohnungspolitik einsetzte.

Das ging so weit, daß bei den nächsten Parlamentswahlen der Abbé Pierre, der eigentlich keine politischen Ambitionen gehabt hatte, mit Riesenerfolg ins Parlament gewählt wurde. Dort hat er sich vor allem für sozialen Wohnungsbau und zugunsten der ärmsten Familien eingesetzt. Daß er damit viel Erfolg hatte, verdankte er nicht zuletzt seinem Image bei der Masse der Franzosen, und das stieg dadurch weiter an.

Die katholische Kirche, deren Einfluß seit Jahrzehnten stark nachgelassen hatte, nutzte das, um den eigenen Ruf wieder etwas aufzubessern. Der Abbe Pierre gründete eine Hilfsorganisation, die er in Anlehnung an einen Bibel-Text Emmaüs nannte und die sich vor allem um Obdachlose kümmert. Diese finden in den Zentren der Organisation eine Unterkunft und eine Beschäftigung, mit der sie wieder eigenes Geld verdienen und die Grundlagen für eine Rückkehr in ein geregeltes Leben legen können.

In den Anfangsjahren sammelten die »Compagnons« Altmaterial, das zur Wiederverwertung abgeliefert wurde. Später wurden dann Sachspenden jeder Art, Kleidung, Haushaltsartikel und Spielzeug entgegengenommen, eventuell repartiert oder etwas aufgearbeitet, und dann auf Märkten billig verkauft. Die Käufer sind vor allem einkommensschwache Familien, und das Geld kommt den Hilfsaktivitäten der Organisation zugute.

Bis heute hat sich das so weit entwickelt, daß Emmaüs eine landesweite Kette eigener Läden für gebrauchte Gegenstände hat und sogar einmal im Jahr in Paris eine Verkaufsmesse veranstaltet. Darüber hinaus organisiert Emmaüs Umschulungslehrgänge für die »Compagnons«, um sie auf einen Job beispielsweise in einem Baubetrieb oder bei einem Handwerker vorzubereiten. Außerdem renoviert Emmaüs in eigener Regie baufällige Immobilien und macht daraus Wohnhäuser mit Einraumwohnungen für die »Compagnons«.

Die Aktivitäten von Emmaüs für die »Resozialisierung« von ehemaligen Obdachlosen und ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft sind so erfolgreich, daß das Modell in zahlreichen Ländern aufgegriffen wurde. Abbé Pierre wurde dorthin eingeladen, um über seine Erfahrungen zu berichten. Als er 2007 im Alter von 94 Jahren gestorben ist, empfanden das viele Franzosen als Verlust für das Land.

Doch vor Tagen ist dieses positive Bild in sich zusammengebrochen, als bekannt wurde, daß sich der Abbé Pierre über Jahrzehnte hinweg an Frauen und Kindern vergangen hat. Die katholische Kirche und die Organisation Emmaüs, wo man darüber ganz offensichtlich Bescheid wußte, haben das all die Jahre lang verschwiegen und unter den Teppich gekehrt.

Als sich vor etwa einem Jahr die Hinweise auf Abbé Pierres Fehlverhalten häuften und man die Berichte betroffener Frauen nicht länger totschweigen konnte, wurde eine auf solche Fälle spezialisierte Organisation mit der Untersuchung der Vorwürfe beauftragt. Sie hat jetzt ihren Bericht vorgelegt und dieser macht deutlich, daß alles noch viel schlimmer war als anfangs vermutet. Bei den meisten Fällen ging es nicht nur um deplatzierte Bemerkungen und Handgreiflichkeiten, sondern um Nötigung zu sexuellen Handlungen und um regelrechte Vergewaltigungen.

Bei einer Vortragsreise in den USA mußte der Abbé Pierre überstürzt das Land verlassen, denn nachdem Opfer die Polizei informiert hatten, drohte ihm die Festnahme und eine Untersuchungshaft. Bei einer Reise in Kanada konnte eine Verhaftung nur durch Fürsprache des Kardinals von Quebec abgewendet werden, der aber verlangte, daß der Abbé Pierre »sofort das Land verläßt und nie wiederkommt«. Im Frankreich fühlte sich der Mönch sicherer und hier hat er Opfern, die bei der Polizei oder vor der Justiz Aussagen machen wollten, damit gedroht, daß er seine weitreichenden Beziehungen spielen lassen und sie »vernichten« werde.

Die katholische Kirche hat den Abbé Pierre nie verwarnt oder gar bestraft, sondern hat ihn bestenfalls zeitweise aus dem öffentlichen Blickfeld genommen und beispielsweise für ein Jahr zu psychologischer Behandlung in ein Kloster in der Schweiz geschickt. Geholfen hat das nichts. Bis zu seinen letzten Lebensjahren war der Mönch sexbesessen, auch wenn er sich darauf beschränken mußte, Frauen lüstern die Brüste zu betatschen. Sein persönlicher Sekretär war beauftragt, bei Audienzen den Abbé Pierre nie mit einer Frau allein zu lassen und sofort einzugreifen, wenn der Mönch Anstalten machte, die Frau unsittlich zu berühren.

Die Entrüstung und Enttäuschung über den Abbé Pierre, der das positive Bild über sich selbst zerstört hat, ist groß. Reihenweise benennen jetzt Städte und Gemeinden ihre nach ihm benannten Straßen oder Plätze um. Gedenktafeln werden entfernt und die Erinnerungsstätte in Esteville, wo er seine Kindheit und Jugend verbrachte, wurde geschlossen.

Da man gegen den jetzt schon lange toten Mönch nicht mehr die Justiz anrufen kann und außerdem die meisten seiner Untaten verjährt sind, wird von den Opfern und ihren Anwälten überlegt, eventuell die Kirche und Emmaüs auf Schadenersatzzahlungen zu verklagen. Die vom Abbé Pierre gegründete und geleitete Organisation ist durch den Skandal existentiell bedroht und hat als erste Maßnahme beschlossen, seinen Namen aus dem der Organisation und der sie tragenden Stiftung zu tilgen.

Emmaüs hat allen Grund, möglichst bald wieder aus den Titelzeilen der Medien zu verschwinden, denn die Organisation ist schon seit Monaten mit einem weiteren Skandal konfrontiert. Obdachlose Männer und Frauen einer regionalen Struktur von Emmaüs haben Journalisten gegenüber berichtet, daß sie zwar untergebracht und verpflegt wurden, daß sie aber über Monate arbeiten mußten, ohne ordnungsgemäß bei den Behörden angemeldet und krankenversichert zu sein, und daß sie mit Almosen »entlohnt« wurden.