Ausland

Keine Tabus mehr

NATO-Manöver begann am 9. Mai

Der 9. Mai ? Das ist – so sollte es jedem bewußt sein – der Tag des Sieges. Der Tag, an dem in Rußland und weiteren Staaten der opferreichen Niederschlagung des Nazireichs gedacht wird. Kein Land hat im Kampf gegen den Weltkriegsaggressor so viele Menschen verloren wie die Sowjetunion, die vier Jahre lang in der Abwehr des deutschen Vernichtungskriegs die Hauptlast trug. Man kann, man sollte daraus die Konsequenzen ziehen. Die grundlegendste lautet : nie wieder !

Nie wieder ? Ach was. Nicht mit der NATO. Das Kriegsbündnis begann am 9. Mai ein Großmanöver – eines, bei dem zwar keine Panzer in Richtung Osten rollen, bei dem aber der Startschuß dafür und die ihm vorausgehenden sowie die ihn begleitenden Entscheidungsprozeduren in den militärischen Hauptquartieren und in den ministerialen Amtsstuben eingeübt werden. »CMX 2019« heißt das Manöver, mit dem sich die NATO auf einen imaginierten Cyberangriff gegen einen Mitgliedstaat sowie auf darauf folgendes Einsickern von Militärs des Gegners vorbereitet. Der Feind ist dabei ein Land, das Atomwaffen besitzt. Nein, die Kriegsübung, bei der unter anderem Konsultationen des NATO-Rats und die Ausrufung des Bündnisfalls, sprich : die NATO-Kriegserklärung, durchexerziert werden, richtet sich nicht gegen einen etwaigen Angriff der Atommacht Pakistan.

Was ist das, wenn die NATO am Tag des Sieges den Krieg gegen Rußland übt – politisch geschmacklos ? Eine üble Provokation ? Eine kalte Machtdemonstration ? Nun, »CMX 2019« ist wohl alles zugleich. Was sollte man auch anderes von einem Kriegsbündnis erwarten, das vor 20 Jahren deutschen Kampfjets erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg den Weg zum Angriff auf Jugoslawien bahnte und das inzwischen die deutsche Bundeswehr in Litauen stationiert – und damit in einem Gebiet, in dem die Großväter der heutigen Soldaten ihren Vernichtungskrieg führten.

Mit dem Jugoslawien-Krieg und der Stationierung deutscher Truppen in Litauen – ein Zeichen der Feindseligkeit gegenüber Moskau – sind die Tabus, die militärische Aktivitäten der Bundesrepublik im Osten noch Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg ein wenig hemmten, längst gefallen. An »CMX 2019« nimmt daher selbstverständlich auch das deutsche »Verteidigungsministerium« teil, das die Einbindung des Bundeskabinetts und des Parlaments in die Ausrufung des Kriegsfalls probt. Und der 9. Mai, der Tag des Sieges – muß man da nicht Rücksicht nehmen ? Aber nein. Für den Umgang mit Daten, zu denen in anderen Ländern der Niederwerfung der deutschen Faschisten gedacht wird, gibt es ein Vorbild : den 11. November. In Frankreich und Britannien wird er als Gedenktag begangen, zur Erinnerung an die Opfer des Ersten Weltkriegs. In Deutschland, das diese Opfer maßgeblich zu verantworten hat, startet man am 11. November höchstens in den Karneval.

Jörg Kronauer