Leitartikel10. Juli 2024

Das französische Kapital braucht »vernünftige Reformkräfte«

von Ali Ruckert

Anders als die Meinungsforschungsinstitute vorausgesagt hatten, errang der rechtsextreme Rassemblement National weder die relative und erst recht nicht die absolute Mehrheit in der Assemblée nationale.

Verhindert wurde das durch die Wähler des Nouveau Front populaire, des wirtschaftsliberalen Wahlvereins von Präsident Macron und weiterer rechter Parteien, die im zweiten Wahlgang mehrheitlich die Kandidaten wählten, die gegen die Rechtsextremen antraten, nachdem zuvor Oppositions- und Regierungsparteien sich darauf geeinigt hatten, in jedem einzelnen Wahlbezirk nur ihren aussichtsreichsten Kandidaten im Rennen zu belassen.

Auf diese Weise kam der Nouveau Front populaire auf 182 Sitze, das Präsidentenlager auf 168 Sitze und der Teil der Républicains, die sich gegen eine Kooperation mit Le Pen entschieden hatten, auf 45 Sitze.

Die neue Volksfront wurde zur stärksten Kraft, nicht weil über Nacht Millionen zusätzliche Wählerinnen und Wähler den Front populaire und ihr Programm aus Überzeugung gewählt hätten, sondern weil sie den rechtsextremen Rassemblement National verhindern wollten. Das gilt übrigens auch für die linken Wähler, die im zweiten Wahlgang oft zähneknirschend einem Kandidaten des Wahlvereins von Präsident Macron ihre Stimme gaben, obwohl die erste Wahlrunde deutlich machte, dass das Wahlvolk in seiner ganz großen Mehrheit keinen Macronismus mehr will.

Auch wenn der Nouveau Front populaire seit Sonntag die stärkste Kraft in der Assemblée nationale ist, sollte man nüchtern feststellen, dass sich die Linke im Land deutlich in der Minderheit befindet, und die große Mehrheit der Franzosen sich für wirtschaftsliberale und rechtsextreme Parteien entschieden hat, wobei – und auch das sollte man im Hinterkopf behalten – der rechtsextreme Rassemblement National stärkte Partei ist und noch einmal deutlich an Stimmen und Mandaten hinzugewann, insbesondere in den ländlichen Gebieten und in den Bevölkerungsteilen, die besonders stark unter der kapitalistischen Krise und der Austeritätspolitik der Regierung Macron zu leiden hatten.

Möglicherweise könnte die Umsetzung von Teilen des wirtschaftlichen und sozialen Programms der neuen Volksfront dazu beitragen, den Einfluss des Rassemblement National einzudämmen.

Allerdings gäbe es dazu eine ganze Reihe Hürden zu überwinden, angefangen damit, dass die wirtschaftsliberalen Parteien, die den Präsidenten bisher unterstützten, stark bleiben und bereits angefangen haben, Keile in die neue Volksfront zu treiben, um »die Spreu vom Weizen« zu trennen, beziehungsweise die »linksextremen« politischen Kräfte zu isolieren, um die »vernünftigen Reformkräfte« der Sozialdemokratie und Teile der Grünen für eine Koalitionsregierung mit den Macronisten und den Republikanern zu gewinnen, wie sie vom französischen Finanz- und Großkapital und den supranationalen kapitalistischen Institutionen à la EU und NATO gewünscht wird.

Ob das allerdings dazu führen wird, dass der Mindestlohn strukturell deutlich erhöht, die Hungerrenten abgeschafft, die gesundheitliche Fürsorge verbessert, die Arbeitszeit gesenkt, die Ausbeutung eingeschränkt und genügend bezahlbare Wohnungen gebaut werden, darf bezweifelt werden, es sei denn, es würde zu massiven sozialen Kämpfen und einer sozialen Revolution kommen.

Ohnehin stellt sich die Frage, was eine linke Volksfront in einer bürgerlichen Regierung bewirken kann, die sich weiter in den Dienst der im Interesse des Kapitals agierenden Europäischen Union und der kriegslüsternen NATO stellt.