»Bis zum letzten Ukrainer«
Die EU bereitet neue Waffenlieferungen an die Ukraine vor. Ex-USA-Diplomat urteilt, der Westen favorisiere zwecks Schwächung Rußlands einen langen Krieg
Die EU bereitet weitere Rüstungslieferungen an die Ukraine vor und schließt eine Ausdehnung des Krieges über mehrere Jahre nicht aus. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat am Wochenende bekräftigt, die EU sei für die Ausfuhr auch schwerer Waffen in die Ukraine offen. Die deutsche Bundesregierung will fremden Staaten »Militärhilfen« in Höhe von zwei Milliarden Euro zur Verfügung stellen; den Großteil sollen die ukrainischen Streitkräfte erhalten. Der Düsseldorfer Rüstungskonzern Rheinmetall erklärt sich bereit, bis zu 50 Kampfpanzer des Typs Leopard 1 zu überholen und sie Kiew zu liefern.
Die Strategie der westlichen Mächte im Ukraine-Krieg orientiert nicht darauf, die Kämpfe so schnell wie möglich mit einem Waffenstillstand zu beenden, sondern darauf, Rußland militärisch zu schwächen und ihm eventuell gar eine Niederlage zu bereiten; der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell äußert, der Krieg werde »auf dem Schlachtfeld« entschieden. Ein einst hochrangiger USA-Diplomat kommentiert, die transatlantischen Mächte kämpften gegen Rußland »bis zum letzten Ukrainer«.
»Jahrelang Krieg«
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat am Ostersonntag den Druck erhöht, der Ukraine mehr und zudem schwerere Waffen zu liefern als bisher. »Ich unterscheide nicht zwischen schweren und leichten Waffen«, erklärte die frühere deutsche Kriegsministerin in einem Interview mit der Springer-Zeitung »Bild«: Die ukrainischen Streitkräfte müßten »das bekommen«, was sie benötigten und »handhaben« könnten. Die EU habe dafür bislang 1,5 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt; hinzu kämen Ausfuhren von Mitgliedstaaten. »Für alle Mitgliedstaaten gilt«, sagte die Kommissionspräsidentin: »Wer kann, sollte schnell liefern, denn nur dann kann die Ukraine in ihrem akuten Abwehrkampf gegen Rußland bestehen.«
Zur Zielsetzung der Waffenlieferungen behauptete von der Leyen einerseits, die EU werde »alles tun«, damit der Krieg »so schnell wie möglich endet«. Andererseits äußerte sie in offenem Widerspruch dazu: »Die Ukraine kann den Krieg gewinnen.« Allerdings werde man sich dafür auch »darauf vorbereiten« müssen, »daß der Krieg schlimmstenfalls noch Monate, gar Jahre dauern kann«.
Drohnen, Panzer, Militärhubschrauber
Die NATO-Staaten sind daher dabei, ihre Waffenlieferungen an die Ukraine aufzustocken. Zu den Panzer- und den Flugabwehrwaffen, die sie Kiew längst in hoher Zahl zur Verfügung stellten, kamen inzwischen unter anderem gepanzerte Fahrzeuge und Haubitzen sowie Drohnen hinzu; nun sollen außerdem Panzer und Militärhubschrauber des alten sowjetischen Typs Mi-17 in an die Ukraine grenzende Gebiete östlicher und südöstlicher NATO-Staaten gebracht und dort ukrainischen Soldaten übergeben werden.
Alleine Lieferungen aus den USA, die nicht zuletzt auch Munition und Schutzausrüstung aller Art umfassen, werden in Washington auf einen Wert von gut 800 Millionen US-Dollar geschätzt. Die Rüstungsexporte, die die Vereinigten Staaten alleine seit Kriegsbeginn am 24. Februar an ukrainische Truppen übergaben, belaufen sich inzwischen auf einen Wert von gut 3,2 Milliarden US-Dollar.
Kritik hat hervorgerufen, daß die Ausbildung ukrainischer Soldaten an Waffensystemen, die sich bisher nicht in den Kiewer Beständen befanden, Zeit kostet. USA-Militärs erklären dazu, es sei möglich, die Ausbildungszeit deutlich zu verkürzen. Ukrainische Soldaten werden von der NATO insbesondere in Polen im Gebrauch des Kriegsgeräts trainiert.
Leoparden für Kiew
Auch die deutsche Bundesregierung stockt ihre Waffenlieferungen an die Ukraine auf. Nachdem die Bundeswehr aus ihren Beständen Panzer- und Flugabwehrwaffen sowie Schutzausrüstung zur Verfügung gestellt hat, will Berlin nun zusätzliche Mittel bereitstellen und zieht den Kauf von Kriegsgerät für Kiew bei deutschen Waffenschmieden in Betracht. In der vergangenen Woche wurde bekannt, daß Kanzler Olaf Scholz zusätzlich zu dem 100 Milliarden Euro schweren »Sondervermögen« für die Bundeswehr zwei Milliarden Euro für »Militärhilfen« reserviert hat, die fremden Staaten zugute kommen sollen – der überwiegende Teil davon der Ukraine. Druck hatten diesbezüglich vor allem Politiker von Bündnis 90/Die Grünen, FDP und CDU gemacht.
Im Gespräch ist, der Ukraine Schützenpanzer des Typs Marder zu liefern. Der Düsseldorfer Rüstungskonzern Rheinmetall hat jetzt angeboten, zusätzlich bis zu 50 Exemplare des Kampfpanzers Leopard 1 zu liefern, die er von der Bundeswehr und von weiteren Streitkräften nach der Ausmusterung zurückgenommen hat und aufbewahrt. Klar ist, daß die Panzer zumindest notdürftig überholt werden und ukrainische Militärs ihren Gebrauch erlernen müssen. Beides zusammen wird zumindest einige Wochen, womöglich mehrere Monate dauern.
»Entscheidung auf dem Schlachtfeld«
Dazu paßt, daß in der Kriegsplanung des Westens der Abschluß eines Waffenstillstands oder gar eines Friedensabkommens zwischen Kiew und Moskau längst in den Hintergrund gerückt ist. Noch zu Monatsbeginn hatten ukrainische Unterhändler nach einem Treffen in Istanbul mitgeteilt, man habe sich mit der russischen Seite auf die Kernelemente einer Vereinbarung zur Beendigung des Krieges einigen können; von einem Ende der Kämpfe in »ein bis zwei Wochen« war die Rede. Daraufhin hatte etwa der britische Premierminister Boris Johnson der ukrainischen Regierung von einem Waffenstillstand abgeraten; USA-Präsident Joe Biden hatte öffentlich erklärt, der Krieg könne »noch lange« dauern, während NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg ausdrücklich von »Jahren« sprach.
Am 7. April teilte Rußlands Außenminister Sergej Lawrow mit, Kiew habe stillschweigend einige Änderungen an den Verhandlungsdokumenten vorgenommen, die einer Einigung im Weg stünden. Hinzu kam, daß insbesondere Washington darauf zu dringen begann, den russischen Präsidenten Wladimir Putin vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag wegen Kriegsverbrechen anzuklagen. Dies erschwert eine Einigung ebenso wie Bidens jüngster Vorwurf, Rußland begehe in der Ukraine einen »Genozid«. Schon am 9. April hatte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell erklärt: »Dieser Krieg wird auf dem Schlachtfeld gewonnen.«
Die Kriegsziele des Westens
Zur Kriegsstrategie des Westens hatte sich bereits am 24. März Chas Freeman geäußert, ein USA-Diplomat, dessen Karriere im Auswärtigen Dienst der Vereinigten Staaten in den Jahren von 1965 bis 1995 ihn unter anderem auf den Posten des USA-Botschafters in Saudi-Arabien und in eine Spitzenposition im USA-Kriegsministerium führte. Freeman urteilt, »alles, was wir [der Westen] tun, zielt offenbar darauf, die Kämpfe zu verlängern, anstatt ihr Ende und einen Kompromiß zu beschleunigen«. Es scheine »eine Menge Leute« in den USA zu geben, die das »prima« fänden: Es sei »gut für den militärisch-industriellen Komplex«; es bestätige »unsere negativen Ansichten über Rußland«; es stärke die NATO, und es bringe China in Verlegenheit.
Zwar werde dieses Vorgehen zu einer großen Zahl an Todesopfern führen; dennoch fragten sich einige im Westen offenbar insgeheim: »Was ist so schrecklich an einem langen Krieg?« Schließlich sei das Ganze – de facto ein Stellvertreterkrieg gegen Rußland – für den Westen »im Wesentlichen kostenfrei«. Man könne die Strategie der transatlantischen Mächte so auf den Punkt bringen: »Wir kämpfen bis zum letzten Ukrainer für die ukrainische Unabhängigkeit.«