Keine Lösung für Gaza in Sicht
Die humanitäre Krise im Gazastreifen spitzt sich weiter zu. 85 Prozent der Bevölkerung mußten ihre Wohnungen verlassen und sind auf der Flucht. Die Zahl der Todesopfer unter den Palästinensern näherte sich am Freitag 19.000, darunter nach Angaben der Behörden im Gazastreifen rund zwei Drittel Frauen und Kinder.
Mehr als 50.000 Menschen wurden verletzt, viele davon schwer. Eine angemessene Behandlung der Verletzungen ist kaum noch möglich, da die Krankenhäuser im Gazastreifen in vielen Fällen beschädigt sind und nicht mehr angemessen mit ärztlichem Bedarf und Medikamenten versorgt werden können. Längst müssen zahlreiche Operationen ohne Narkose durchgeführt werden.
Laut UNO-Angaben leidet die Hälfte der Bevölkerung akut an Hunger; Krankheiten, die durch katastrophale sanitäre Verhältnisse verursacht werden, greifen um sich. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hat die Lage »katastrophal« und »apokalyptisch« genannt und erklärt, es seien proportional schon jetzt mehr Gebäude im Gazastreifen zerstört als in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Aktuell kommt hinzu, daß heftiger Regen zu Überflutungen führt. UNO-Stellen nennen die Lage im Gazastreifen »die Hölle auf Erden«.
Taktische Enthaltung
Trotz der katastrophalen humanitären Krise im Gazastreifen spricht sich die deutsche Bundesregierung nach wie vor klar gegen einen Waffenstillstand aus. Kanzler Olaf Scholz bekräftigte zuletzt am Mittwoch, Israel habe ein »Recht auf Selbstverteidigung« – eine banale Feststellung, die im politischen Alltag allerdings als Formel genutzt wird, um der Forderung, die Kampfhandlungen einzustellen, eine implizite Absage zu erteilen.
Außenministerin Annalena Baerbock hatte sich zuvor in einem Interview in ähnlicher Weise geäußert. Eine Sprecherin ihres Ministeriums wurde am Mittwoch mit der Aussage zitiert, die »Forderung nach einem Waffenstillstand« erschließe sich ihr nicht, da man »davon ausgehen« müsse, daß die Hamas ihre Angriffe fortsetzen werde. Belege nannte sie nicht.
Bei der Waffenruhe im November war das Gegenteil der Fall. Daß Deutschland sich am Dienstag beim Votum der UNO-Generalversammlung über die Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand enthielt, anstatt – wie die USA – mit »Nein« zu stimmen, hatte laut dem Grünen-Politiker Jürgen Trittin nur taktische Gründe: Da Berlin die Aufnahme der Forderung nach »Freilassung der Geiseln« durchgesetzt habe, habe es »nicht mit Nein stimmen« können – »sonst kann man nie wieder etwas reinverhandeln«.
Unruhe in Washington
Die deutsche Bundesregierung vertritt damit eine deutlich härtere Position als die USA. Washington lehnt einen Waffenstillstand zwar ebenfalls ab, drängt Israel aber seit Wochen öffentlich, die Angriffe auf den Gazastreifen zu reduzieren und Rücksicht auf die Zivilbevölkerung zu nehmen. USA-Präsident Joe Biden hatte bereits Mitte Oktober gewarnt, Israel solle nicht die Fehler begehen, die die USA nach 9/11 begangen hätten. Damals hatten die USA militärisch am Hindukusch interveniert wie jetzt Israel im Gazastreifen. Der Krieg in Afghanistan ging für Washington verloren. Biden hat die Warnung am Dienstag wiederholt und Israel dabei »willkürliche Bombardements« im Gazastreifen vorgeworfen.
Zudem wies er darauf hin, daß Israel sich mit seiner Kriegführung international immer mehr isoliere. Die Bemerkung ist insofern von Bedeutung, als die USA in ihrer Außenpolitik dem Machtkampf gegen China inzwischen absolute Priorität einräumen und wenig geneigt sind, sich nach all ihren Kriegen im Nahen und Mittleren Osten jetzt erneut in der Region zu verausgaben. Stärkere Aktivitäten der USA dort könnten jedoch notwendig werden, sollte sich die Feindschaft gegen Israel in der Region wegen der exzessiven israelischen Kriegführung zuspitzen. Das Land ist schon für seine gegenwärtige Kriegführung auf teure Rüstungslieferungen aus den USA angewiesen.
Die ersten Sanktionen
Die USA-Politik führt inzwischen dazu, daß Berlin zum ersten Mal überhaupt Sanktionen gegen Israel in Betracht zieht. Washington hat, um Tel Aviv zum Einlenken zu zwingen, am 5. Dezember ein Einreiseverbot gegen mehrere Dutzend israelische Siedler verhängt, die beschuldigt werden, an Angriffen auf Palästinenser im Westjordanland beteiligt gewesen zu sein. Dort sind seit dem 7. Oktober laut Angaben aus Ramallah 264 Palästinenser von Siedlern oder von israelischen Repressionskräften getötet worden. Das Einreiseverbot soll die israelische Regierung dazu veranlassen, die Gewalt zu stoppen, um eine nicht mehr kontrollierbare Eskalation der Lage zu verhindern, die ebenfalls USA-Kräfte binden würde.
Sanktionen gegen Israel waren in Deutschland bislang tabu. Wer sie forderte, mußte damit rechnen, öffentlich gemaßregelt zu werden – ähnlich wie Künstler, denen etwa Preise aberkannt wurden, da sie auf die verzweifelte Lage vieler Palästinenser hinwiesen.
Der Entscheidung der USA, Einreiseverbote gegen Siedler in Kraft zu setzen, schließt sich Berlin an, stellt sich Bestrebungen in der EU, ebenfalls Einreiseverbote gegen gewalttätige Siedler zu verhängen, nicht mehr in den Weg und zieht sogar eigene Maßnahmen in Betracht.
»Schlüsselrolle«
für die EU
Unabhängig davon streben die Bundesregierung und die EU für die Zeit nach dem Ende des Krieges weiterhin eine führende Rolle beim Wiederaufbau des Gazastreifens und bei der Neuordnung der Region an. Schon Mitte November hatte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell ein EU-»Rahmenwerk« für den Gazastreifen angekündigt, das unter anderem die Kooperation mit einer neu formierten Palästinensischen Autonomiebehörde vorsah. Nur wenig später hatte er eine »Schlüsselrolle« für die EU in möglichen Friedensgesprächen verlangt: »Wir Europäer«, erklärte er, müßten dies schon »aus Eigeninteresse« einfordern, denn »ein bedeutender Teil der künftigen globalen Rolle der EU« werde wohl »von unserem Einsatz abhängen, zur Lösung dieses Konfliktes beizutragen«.
»Jegliche moralische Autorität verloren«
Zur politischen Stimmung unter den Palästinensern im Gazastreifen und im Westjordanland, wo sich die Bundesrepublik Deutschland künftig gerne als Ordnungsmacht positionieren würde, liegt eine aktuelle Untersuchung vor, die zwischen dem 22. November und dem 2. Dezember von der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung und dem Palestinian Center for Policy and Survey Research (PSR) durchgeführt wurde. Sie kommt zu dem Ergebnis, daß während des Krieges – wie schon während früherer Kriege, also absehbar – die Unterstützung für die Hamas klar zugenommen hat.
Demnach unterstützen Ende November 42 Prozent der Menschen im Gazastreifen die Hamas, dies gegenüber 38 Prozent im September; im Westjordanland ist der Anteil von zwölf Prozent im September auf heute 44 Prozent in die Höhe geschnellt. Die Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, mit deßen Autonomiebehörde der Westen in Zukunft kooperieren will, wird nur noch von 17 Prozent der Palästinenser unterstützt.
87 Prozent aller Palästinenser sind darüber hinaus der Ansicht, westliche Staaten wie die USA, Deutschland, Britannien und Frankreich hätten, indem sie Israel faktisch grünes Licht für die Angriffe auf den Gazastreifen gegeben hätten, das humanitäre Völkerrecht mißachtet. PSR-Direktor Khalil Shikaki konstatiert: »Der Westen hat jegliche moralische Autorität bei den Palästinensern verloren.