Luxemburg15. September 2022

»Das Wohlbefinden der Kinder leidet enorm«

Interview mit Joëlle Damé, der neuen Präsidentin des SEW/OGBL, über die Hürden der Alphabetisierung, die Auswirkungen der Krisen auf die Schüler und den nicht behobenen Lehrermangel

von Alain Herman

Zunächst kurz zu Deiner Person: Wie bist Du zur Gewerkschaftsarbeit gekommen und welche Ziele hast Du Dir als Vorsitzende des SEW/OGBL gesetzt?

Zur eigentlichen Gewerkschaftsarbeit bin ich recht spät gekommen. Zunächst engagierte ich mich in Petingen im Schulkomitee. Im Rahmen von Diskussions- und Informationsveranstaltungen wuchs mein Interesse an konkreter Gewerkschaftsarbeit. Besonders die Konferenz von Thomas Lenz über Bildungsungleichheiten im Luxemburger Schulsystem hatte mich beeindruckt und dazu animiert, mich für eine sozial gerechtere Schule einzusetzen.

Der damalige SEW-Präsident Patrick Arendt bot mir an, im Komitee des OGBL-Bildungssyndikats mitzuwirken. Ein Angebot, das man nicht ausschlagen kann, da das SEW im Bildungsbereich die progressivsten Standpunkte vertritt und sich somit nicht ausschließlich auf die spezifischen Probleme des Lehrerberufs fokussiert, sondern den gesellschaftlichen Kontext niemals aus den Augen verliert. Im Gegenteil, neben Ausbildungs-, Lohn- und Karrierefragen beschäftigt sich unsere Gewerkschaft intensiv mit dem Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen.

Als Spiegelbild der Gesellschaft birgt auch die Schule unzählige soziale sowie bildungstechnische Missverhältnisse, die sich negativ auf die Bildungs- und Berufschancen der Schüler auswirken, insbesondere auf diejenigen aus einkommensschwachen Familien. Gerade diesen Ungleichheiten gilt es als fortschrittliche Gewerkschaft entgegenzuwirken. Darin sehe ich auch als neue Präsidentin des SEW meine Aufgabe.

Durch meine langjährige Berufspraxis in der Gemeinde Petingen, die sicherlich nicht zu sozial privilegierten Kommunen des Landes gehört, habe ich diese Aspekte genau kennengelernt. Wenigstens die Schule sollte in einer ungerechten Gesellschaft der Ort sein, wo soziale Kohäsion und Integration möglich sind, damit jeder über eine faire Ausgangschance verfügt.

À propos »faire Ausgangschance«: Das Luxemburger Modell der Alphabetisierung und des Sprachenunterrichts scheint doch ein wesentlicher Exklusionsfaktor zu sein. Scheitern viele Schüler nicht bereits in den ersten Grundschuljahren eben aufgrund dieses Modells?

Es handelt sich um ein komplexes Thema. Als SEW haben wir uns intensiv damit auseinandergesetzt. Im Herbst werden wir uns in einer internen Arbeitsgruppe, die sich bereits im Frühjahr über das derzeitige Bildungsangebot in den internationalen Schulen sowie über die von der Regierung anvisierte Politik informiert hat, weiter mit diesen Fragen befassen.

Natürlich stehen wir einer anderen Alphabetisierung offen gegenüber. Das aktuelle System erweist sich angesichts der vielen Nationalitäten und der unterschiedlichen Muttersprachen in den Klassen als überholt. Nur noch ein Drittel der Kinder spricht zuhause Luxemburgisch, was sich logischerweise auf die Resultate der Alphabetisierung in deutscher Sprache auswirkt. Unser Vize-Präsident, Jules Barthel, spricht in diesem Zusammenhang treffend von einer »Apartheid light«.

In der Diskussion um die Schulpflicht hat das SEW deutlich gemacht, das Übel an der Wurzel zu packen. Anstatt die Schulpflicht zu verlängern, sollten die Startschwierigkeiten und Chancenungleichheiten in den ersten Jahren der Schulbildung behoben werden. Sprachunterricht und Alphabetisierung der Kinder stellen ein wesentliches Problem unseres Schulsystems dar. Luso- und frankophone Kinder bzw. Schüler, die nicht mal eine europäische Sprache zuhause sprechen, werden auf Deutsch unterrichtet und das in einem Land, in dem – abgesehen von der luxemburgischen Bevölkerung – die überwiegende Mehrheit nicht »deutschsprachig« ist. Das führt unweigerlich zu einem Ausschlussprozess.

Die Sprache stellt sich also in der Tat als hauptsächlicher Exklusionsfaktor heraus. Tatsache ist, dass von diesen Kindern viele nicht mal ihre eigene Muttersprache adäquat beherrschen. Daran sieht man, wie kompliziert die Lage ist.

Seitens des Bildungsministeriums wurde das Projekt der Alphabetisierung auf Französisch lanciert. Handelt es sich hierbei um einen Lösungsweg?

Wir vermissen in diesem Kontext vor allem einen breit angelegten Dialog. Das Ministerium trifft unilateral Entscheidungen. Diese Projekte werden dann mit Werbekampagnen und Pressekonferenzen öffentlichkeitswirksam in die Vitrine gestellt.

Wir bedauern auch, dass der Sprachenunterricht an den Grundschulen nicht von Grund auf überdacht wurde. Es ist illusorisch, anzunehmen, dass in Zukunft weiterhin alle Schüler Deutsch, Französisch und Luxemburgisch auf Erstsprachniveau lernen können oder müssen. Dies hätte mit allen Partnern, im Rahmen der Überarbeitung des Lehrplans, diskutiert werden müssen. Bei diesen Diskussionen wäre dann ersichtlich geworden, dass die Alphabetisierungssprache sowie die Vorläuferfertigkeiten eine wichtige Rolle spielen, und man hätte dann ein Gesamtkonzept ausarbeiten können. Nun ändert sich nur für einige Schüler die Alphabetisierungssprache.

Ein flexiblerer Umgang mit den Sprachen wäre ein Paradigmenwechsel, und würde es gleichzeitig ermöglichen, unser Schulsystem wieder zu harmonisieren, internationale öffentliche Schulen und traditionelle öffentliche Schulen zusammenzulegen, um somit zu einer einheitlichen öffentlichen Schule mit einem landesweiten Alphabetisierungsangebot in Deutsch und Französisch zurückzukehren.

Nichtsdestotrotz dürften die Schüler nur minimal während der Unterrichtszeit getrennt werden und sprachlich müssten sie zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder zusammenfinden, aber das lässt sich nicht ohne Weiteres umsetzen, schon gar nicht in unserem System, in dem – um es mal simpel zu formulieren – zu viel Wert auf »Papierkram« anstatt auf solide Praxis gelegt wird.

Welche Rolle nimmt in dieser Diskussion das Luxemburgische ein? Könnte es nicht als Basis für den Sprachenerwerb fungieren?

Luxemburgisch muss als Umgangs- und Integrationssprache zweifelsohne bestehen bleiben beziehungsweise gestärkt werden. Im Zyklus 1 funktioniert dies meines Erachtens auch sehr gut. Nur durch das Luxemburgische sind eine allgemeine Verständigung und Kohäsion unter den Kindern in der öffentlichen Schule möglich.

Zurück zum Sprachenerwerb: Die Französischinitiation im Zyklus 1 mit dem Artikulieren und Erlernen von Liedern, Reimversen, kurzen Bildergeschichten usw. könnte durchaus als Vorbild für eine mündlich-lautliche Initiation in die deutsche Sprache betrachtet werden. Dergestalt könnte ein gewisses Sprachgefühl erlernt werden, ich denke hier zum Beispiel an die korrekte Verbposition. Der Transfer wäre indes komplex, insbesondere wenn man bedenkt, dass viele Kinder im Alter von 5 oder 6 Jahren ihre Muttersprache nur unzureichend sprechen können. Wortschatzmängel und Satzbauprobleme in der Muttersprache behindern den Lernprozess beträchtlich. Das ist ein gesellschaftliches Phänomen, auf das die Schule sehr wenig Einfluss hat.

Luxemburg steuert wie die anderen Länder der Europäischen Union auf eine wirtschaftliche Rezession zu. Welche Auswirkungen hat diese Entwicklung auf das Wohlbefinden der Kinder?

Bereits vor dieser Krise habe ich diesbezüglich meine Erfahrungen in der Grundschule der Gemeinde Petingen gemacht. Petingen kann man nicht mit dem Speckgürtel der Stadt Luxemburg vergleichen. Die Kinder von Alleinerziehenden und aus einkommensschwachen Familien hatten auch schon vor Corona, Inflation und Ukrainekrieg mit vielen Problemen zu kämpfen.

Bereits im September wird das Budget in diesen Familien wegen der Mehrausgaben zu Schulbeginn knapp. Die galoppierende Inflation wird diese Problematik weiter verschärfen und es werden sicherlich noch viele weitere Kinder hinzukommen, die an oder unter der Armutsgrenze leben. Dabei haben wir die finanziell und vor allem psychologisch schwierige Corona-Krise erst hinter uns.

Hierbei wurde das Wohnungsproblem armer Familien für das Lehrpersonal gleichsam wie in einem Brennglas sichtbar. Auf engstem Raum mussten die Kinder aus benachteiligten Familien dem Fernunterricht folgen. Diese Familien sind wegen Geldsorgen einem immensen Druck ausgeliefert, beide Elternteile müssen einer Arbeit nachgehen, so dass die Heranwachsenden auf Betreuungsstrukturen angewiesen sind.

Mit der Corona-Krise kam bei zahlreichen Kindern aber noch ein angstauslösender Kontext hinzu. Viele fühlten sich verloren und ausgeliefert. Dieser Kontext wird nun durch den Krieg in der Ukraine intensiviert. Erwachsene können diese Ängste oftmals nicht rational verarbeiten, wie sollen Kinder dies tun? Corona, Inflation und Wirtschaftskrise, die Angst vor einem Atomkrieg, das alles prasselt auf die Heranwachsenden ein und nimmt beängstigende Ausmaße an.

Das Wohlbefinden der Kinder leidet enorm. Kinder sind wie Schwämme, sie saugen sämtliche Stimmungen, Eindrücke und Informationen auf. Das im Rahmen der Lockdowns auftretende »syndrôme de la cabane« wird mit Sicherheit nicht verschwinden. Im Gegenteil, es ist zu erwarten, dass unter Schülern das Phänomen der Desozialisierung weiter zunehmen wird, falls es wieder zu Schulschließungen und Homeschooling kommen sollte.

Der OGBL möchte angesichts der kapitalfreundlichen Politik der Regierung Widerstand leisten. Geht das SEW diesen Weg mit?

Aus den oben genannten Gründen ist es wichtig, dass der OGBL auf Regierung und Patronat Druck ausübt, um den Kaufkraftverlust zumindest abzubremsen und die Schaffenden, die mit ihren Kindern vor dem finanziellen Abgrund stehen, massiv zu unterstützen. Sollte es bei der Tripartite nicht zu handfesten Ergebnissen kommen, wird der SEW als Teilsyndikat die weiteren Aktionen des OGBL freilich unterstützen.

Minister Meisch behauptet, der Lehrermangel sei mit den Quereinsteigern weitestgehend behoben. Stimmst Du dem zu?

Einen Mangel an adäquat ausgebildeten Lehrkräften gibt es weiterhin, sonst müsste ja nicht auf die aktuelle Flickschusterei zurückgegriffen werden. Ohne die Lehrbeauftragten würde das ganze System übrigens zusammenbrechen, sowohl in der Grundschule als auch in der Sekundarschule. Die Karriere der Lehrbeauftragten an den Grundschulen, die nicht nur »Hilfssheriffs« sind, sondern dieselbe Arbeit wie ihre staatlich examinierten Kollegen leisten, müsste durch eine »formation en cours d’emploi« aufgewertet werden.

Das Diplom des Grundschullehrers wird indes durch die Reform der sogenannten Quereinsteiger zusehends desavouiert. Mit einem nicht auf die Anforderungen der Grundschulpädagogik passenden Bachelor sowie einem Zusatzjahr ist man in unseren Augen nicht ausreichend vorbereitet auf das Unterrichten von Grundschulkindern. Der Quereinsteiger sollte zunächst durch die Hilfe einer erfahrenen Lehrperson in die Praxis eingeführt werden. Eigenverantwortung könnte dann erst später, nach einer gewissen Probezeit, übernommen werden.

Auch das Ersatzpersonal müsste besser geschult werden. Vier Wochen Praktikum ist eine sehr knappe Zeit zur Aneignung der nötigen Kompetenzen. Eine »formation en cours d’emploi« würde sich hier ebenfalls anbieten.

Am wenigsten wird seitens des Ministeriums über die entsprechend diplomierten und staatlich geprüften Lehrkräfte gesprochen. Diesen Beruf kann man nicht durch simple Plakatkampagnen aufwerten, es bedarf zum einen einer konkreteren Revalorisierung durch weniger Bevormundung und mehr Einbindung in die Entscheidungsfindung auf schulinterner Ebene, indes auch in die Ausarbeitung einer kindgerechten Bildungspolitik, zum anderen durch weniger bürokratischen Aufwand und mehr Praxisarbeit.

Gute Unterrichtsstunden, in denen dutzende Entscheidungen vom Lehrer getroffen werden müssen, verlangen viel Vorbereitungszeit und Energie, diese dürfen nicht durch überbordende Verwaltungsarbeit vergeudet werden.

Wie betrachtet das SEW die angekündigte Hausaufgabenhilfe? Könnte diese zukünftig eine Hilfestellung für benachteiligte Schüler sein?

Der Lehrermangel hat negative Folgen für eine Nachhilfe, die diesen Namen wirklich verdient. Die vom Minister eingeführte Hausaufgabenhilfe entpuppt sich als Etikettenschwindel. Es handelt sich vielmehr um eine Form der »Etude surveillée«, in welcher die Schüler autonom ihre Aufgaben erledigen können. Die hierfür vorgesehenen finanziellen Mittel müssten direkt in die Unterrichtspraxis fließen. Durch eine angemessene Erhöhung des »Contingents« könnte wieder flächendeckend richtige Nachhilfe angeboten werden.

Durch die Hintertür wurde zeitgleich das digitale »E-Bichelchen« eingeführt. Das Geld für diese neue technologische Spielerei hätte das Ministerium ebenfalls anders verwenden können, zum Beispiel auf der Ebene der individuellen Förderung. Es handelt sich bei diesem digitalen Hausaufgabenbüchlein um einen weiteren Schritt hin sowohl zum »gläsernen Schüler« als auch zur »gläsernen Lehrperson«. Das Vertrauen zwischen Regionaldirektion, Schülern, Eltern und Lehrkräften wird dadurch eher untergraben. Die Kontrolle über Schüler, Eltern und Lehrer nimmt zu. Auch der Datenschutz erweist sich bei dieser Plattform als problematisch.

Im Grunde vermittelt dieses Programm nur den Schein von Effizienz. In Wirklichkeit führt die Bedienung einerseits im Unterricht zu Zeitverlust, andererseits leiden unter dieser Automatisierung Selbstreflexion und Verantwortungsgefühl. Die Schüler und deren betreuendes Umfeld werden abhängig von einer technologischen »Innovation«. Außerdem: Was tun, wenn die Zugangscodes verloren gehen oder der Zugang zur App aus technischen Gründen nicht möglich ist?

Der Kontakt zu den Eltern verbessert sich mitnichten durch Digitalisierung, er wird eher umständlicher und distanzierter. Persönliches Gespräch, Kontaktaufnahme oder direkte Absprache über Telefon sowie traditionelles Hausaufgabenbüchlein erweisen sich immer noch als die geeigneteren Methoden.