Leitartikel22. Juli 2023

»Europaschulen« als neue Bildungswunder?

von Alain Herman

Wie oft ist in dieser Zeitung bereits vor der Zersplitterung der komplexen Luxemburger Bildungslandschaft durch die Implementierung neuer »Europaschulen« und »internationaler Programme« gewarnt worden? Die vor zwei Wochen von Unterrichtsminister Claude Meisch vorgestellte Studie zu den EU-Schulen schlägt dem berühmten Fass nun definitiv den Boden aus. In dieser Untersuchung, die von Bildungswissenschaftlern der Universität Luxemburg realisiert wurde, werden doch tatsächlich die EU-Schulen, die seit Mitte der 2010er Jahre vom Ministerium massiv gefördert werden, somit also in jeder Region des Landes aus dem Boden sprießen, als attraktive Alternative zum traditionellen Bildungssystem präsentiert. He who pays the piper calls the tune?

Die Lehrergewerkschaft SEW/OGBL hat zu Recht auf die eklatanten Schwachstellen der »étude« aufmerksam gemacht: Wie sollen die öffentlichen EU-Schulen die vorhandene Bildungsungleichheit wirksam verringern können, wenn die Kinder an jenen Schulen in den allermeisten Fällen aus einem wohlhabenden Umfeld stammen, so dass gleichsam von Anfang an sozioökonomische Homogenität vorherrscht? Wie kann das weitaus weniger anspruchsvolle und flexiblere Sprachenprogramm jener Bildungseinrichtungen überhaupt mit dem drei- bis viersprachigen Unterricht an der luxemburgischen Grund- und Sekundarschule verglichen werden?

Wie kann ein Bewertungssystem, das beim Abitur quasi hundertprozentigen Erfolg garantiert und bei dem eine A-Note für Heftführung, Attitüde und Mitarbeit sowie eine B-Note für Wissens- und Kompetenzerwerb gleichwertig vermengt werden, mit einem examinatorisch geprägten Evaluationssystem gleichgesetzt werden? Und nicht zuletzt: Wie kommt man auf die Idee, das einheitliche System der »Europaschule« mit einem drei-, ja viergliedrigen System auf eine Vergleichsebene zu setzen?

Solche Gegenüberstellungen können doch nur zu der falschen Schlussfolgerung führen, dass die öffentlichen »Europäischen Schulen« aufgrund der ästhetisch anspruchsvollen Ergebnisse die bessere Wahl seien. Weitere Mängel lassen sich bezüglich der Studie aufzählen. So stützt diese sich nur auf die mathematischen Fähigkeiten, wobei die Resultate der Schüler aus dem Luxemburger »Classique« sogar besser sind, während die Sprachkenntnisse der Absolventen aus den »Europäischen Schulen« und dem luxemburgischen Schulsystem in keiner Weise berücksichtigt werden.

Fest steht: Das luxemburgische Schulsystem weist enorme Lücken auf. Mitnichten wird es aber zu mehr schulischer Fairness kommen, wenn weiterhin EU-Schulen, die in ihrer Gründungsphase zunächst konzipiert waren für Kinder zumeist recht bemittelter »Expats«, ins Kraut schießen. Mit einer solchen Bildung »à la carte«, beruhend auf einer Internationalisierung des schulischen Angebots sowie einer Intensivierung der privatwirtschaftlich inspirierten »Schulautonomie«, wird Schülern und Eltern vorgegaukelt, dass sich ein individueller Bildungsweg zurechtschneidern lässt.

Diese Politik läuft auf eine weitere Zerfledderung des ehemals universalen Charakters der öffentlichen Schule und eine Formatierung des Schülers gemäß kapitalistischer Logik hinaus. Angesichts der sich vertiefenden sozialen Widersprüche und einer heterogener, individualistischer sowie unsolidarischer werdenden Gesellschaft müsste die Regierung aus Grünen, Sozialdemokraten und Liberalen mit einer Stärkung der sozialen Rolle der luxemburgischen Bildungsinstitutionen reagieren. Selbst in einem kapitalistischen Staat wie Luxemburg kann u.a. durch eine Reform des Sprachenunterrichts in den beiden ersten Grundschulzyklen und durch umfassende schulische Fördermaßnahmen mehr Bildungsgleichheit erreicht werden.