Ausland14. Juli 2023

Zu früh gefreut

Komplexe Krise stellt Weichen für deutsche Wirtschaft weiter auf Rezession

von Klaus Fischer, Berlin

Deutschlands Wirtschaft bleibt auf Schrumpfkurs. Diesen Trend bestätigen die meisten aktuellen Zahlen. So ist die Produktion im produzierenden Gewerbe im Mai wieder zurückgegangen. Nach vorläufigen Daten des Statistischen Bundesamts vom Freitag gab es nach einem Plus im April nun ein Minus von 0,2 Prozent im Monatsvergleich. Dabei war am Donnerstag in Medienberichten durchaus ein kollektives Aufatmen zu verspüren, weil die Auftragseingänge der Industrie im Mai leicht angestiegen waren. Zu früh gefreut.

Der nun bestätigte Rückgang in Industrie und Bauwirtschaft untermauert, wovor Kapitallobby und Ökonomen inzwischen zunehmend lauter warnen. Bereits durch die Coronakrise (allgemeine Verunsicherung, sinkender Konsum, gerissene Lieferketten) und eine hastig vorangetriebene Energiewende waren die seit 2008/2009 schwelenden ökonomischen Probleme in Deutschland und der gesamten EU akut geworden. Durch den abrupten politischen Kurswechsel (Parteinahme im Ukraine-Krieg und bis dahin unvorstellbare Sanktionen gegen den Energieträger- und Rohstofflieferanten Rußland) wurde dieses Feuer zusätzlich angefacht. Die Inflation war plötzlich kein verstecktes, sondern ein offensichtliches soziales und ökonomisches Großproblem. Und vor allem stand und steht die Energieversorgung auf der Kippe.

Zwischenstand: Seit dem Frühjahr 2023 steckt die – je nach Zählweise – viert- beziehungsweise fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt in einer »technischen« Rezession. Sowohl im vierten Quartal 2022 als auch im ersten Vierteljahreszeitraum 2023 war die Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt, BIP) geschrumpft. Und die Aussichten sind seither nicht besser geworden. Hinzu kommt die andauernde Inflation, die laut aktuellen Zahlen im vergangenen Monat auf 6,4 Prozent angestiegen ist.

Die Ergebnisse grundlegender politischer Weichenstellungen (oder der Mangel daran) der zurückliegenden zwei Jahrzehnte verstärken sich derzeit gegenseitig und ziehen den gesamten gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß nach unten. Dazu zählen unter anderem eine für ein führendes Industrieland inakzeptable Infrastruktur (Bahnnetz, Straßen, Brücken, digitale Verbindungen), ein seit Jahren prognostizierter – und inzwischen akuter – Fachkräftemangel, das überforderte und unterfinanzierte Gesundheitswesen, ein kaum noch zu finanzierendes Renten- und Pensionssystem, extremer Wohnungsmangel und vieles mehr. Erschwerend kommt hinzu, daß das politische Personal nicht gewillt und fähig scheint, diese Krisen zu bekämpfen, sondern sie eher verwaltet und auch weiter anfacht.

Während die meisten Staatsbürger diesen Vorgängen eher wehrlos gegenüberstehen, handelt das Kapital in klassischer Weise: Es flieht. Plätze – in diesem Fall Deutschland –, an denen die Verwertungsbedingungen sich rasant verschlechtern, werden aufgegeben. Das zeigt sich zunächst in der aktuell steigenden Zahl an Firmenpleiten und der Abwanderung von Unternehmen in andere Staaten. Aktuelles Beispiel: Der Autozulieferer Continental will sein Werk für Bremssysteme im niedersächsischen Gifhorn bis Ende 2027 schließen. Betroffen sei zunächst die Hälfte der derzeit rund 900 Arbeitsplätze, meldete die Agentur Reuters am Freitag. Als Grund nannte der Dax-Konzern den stark gestiegenen Kostendruck in der Automobilindustrie, rückläufige Absatzmärkte und die im internationalen Vergleich nicht wettbewerbsfähige Kostenstruktur des Standorts.

Noch deutlicher wird die Absetzbewegung bei den Investitionen: Wie das kapitalnahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) bereits Mitte Juni berichtete, meiden beziehungsweise verlassen immer mehr Geldgeber den hiesigen Standort. Verglichen mit 45 weiteren entwickelten Staaten war die Differenz aus Zu- und Abflüssen an Investitionen im vergangenen Jahr in der BRD am höchsten. Rund 121 Milliarden Euro verflüchtigten sich netto aus der nationalen Wirtschaft. Und wenn dann doch investiert wird – wie am Beispiel des Chipgiganten Intel –, lassen sich die »Geldgeber« tatsächlich Geld geben – und werden großzügig vom Staat mit zehn Milliarden Euro subventioniert. Das Risiko des Investments trägt nicht der US-amerikanische Konzern, sondern der deutsche Steuerzahler.

Fast noch schlimmer als der Kapitalabfluß dürfte die Absetzbewegung des »Humankapitals« – also von Fachkräften – sein. »Allein 1,2 Millionen gut ausgebildete und überwiegend hoch qualifizierte Fachkräfte sind 2022 ausgewandert. Viele gehen in die Schweiz oder die USA« berichtete das Portal Finanzen.net vergangene Woche.