Ausland19. Juli 2024

Neun Monate Angriffskrieg gegen Palästinenser

Auch im Libanon werden die Kriegstage gezählt

von Karin Leukefeld, Beirut

Der vergangene Dienstag war »Tag 284« im Gaza-Krieg. Auch im Libanon wird der Krieg in Tagen gezählt, auch im Libanon sind Menschen auf der Flucht, auch im Libanon sterben täglich Menschen. Häuser, Ställe, Weiden, Wald, Oliven- und Obstplantagen werden vernichtet. Weißer Phosphor verbrennt die Natur und vergiftet Ackerland auf lange Zeit.

Am 8. Oktober 2023 begann die Hisbollah mit Angriffen auf die israelische Armee, um den palästinensischen Widerstand in Gaza zu unterstützen. Die als »Entlastung« bezeichneten Angriffe haben der israelische Armee, ihren Basen und den militärischen Überwachungssystemen entlang der »Blauen Linie«, die eine von der UNO markierte Waffenstillstandslinie bezeichnet, erheblichen Schaden zugefügt. Mindestens 60.000 israelische Bewohner wurden aus den in Galiläa liegenden Ortschaften und Siedlungen von Israel evakuiert.

83 Prozent der Angriffe kommen aus Israel

Eine Untersuchung des Armed Conflict Location and Event Data Project (ACLED), eine eine Nichtregierungsorganisation zur Erhebung und Verarbeitung von Daten über gewaltsame Konflikte und globale Krisen mit Sitz in Wisconsin, USA, hat vom 7. Oktober 2023 bis zum 21. Juni 2024 insgesamt 7.400 gegenseitige Angriffe dokumentiert. 83 Prozent der Angriffe (6.142) wurden von Israel verübt und töteten mindestens 543 Personen im Libanon. Der libanesische Widerstand von Hisbollah und anderen war laut Zählung für 1.258 Angriffe verantwortlich, dabei starben auf israelischer Seite 21 Personen.

Die deutsche und westliche Berichterstattung in den großen, so genannten »Leitmedien« nennt in der Regel die Hisbollah als Angreifer, dem entsprechend sind öffentliche Schuldzuweisungen, Drohungen und »Warnungen« westlicher und deutscher Regierungen vor allem gegen den Libanon gerichtet. Die erklärte Absicht des Staates Israel, vor, während und seit dem 7. Oktober 2023 Palästinenser zu verfolgen und vernichten zu wollen, kommt in den Medien des »Werte«-Westens kaum vor.

In der Nacht auf den 17. Juli, also am Mittwoch dieser Woche, feuerte die Hisbollah nach eigenen Angaben 80 Raketen auf Israel. Ziele waren Kiryat Shmona, das Hauptquartier des israelischen Bataillons Al-Sahl in Beit Hillel, Kabri sowie die Siedlungen Kfar Hoshen, Or HaGanuz, Bar Yohai und Meron. Die Angriffe waren nach Angaben der Hisbollah eine Reaktion auf die israelischen Angriffe auf »die standhaften Dörfer im Süden, die sicheren Häuser und Zivilisten«. Genannt wurden Kfar Tibnit, wo zwei Zivilisten getötet wurden sowie Kfar Kila, Aitaroun, Aita Al-Shaab und Umm Al-Tut, wo drei Kinder bei israelischen Angriffen ums Leben kamen.

Die Zeitung »L’Orient Today« und weitere libanesische Medien berichteten, es habe sich um die syrisch-kurdischen Kinder Mohammad, Jean Jerkes und Khalil Khalil gehandelt. Die Kinder seien zwischen 5 und 12 Jahren alt gewesen. Sie hätten vor dem Haus gespielt, in dem sie mit ihren Eltern lebten, die als Erntehelfer aktuell bei der Ernte von Wassermelonen gearbeitet hätten.

Im Südlibanon wurden seit Beginn des Syrienkrieges im Jahre 2011 viele Flüchtlingsfamilien aus dem Nachbarland aufgenommen. Mit Beginn des Gaza-Krieges am 7. Oktober 2023 fanden diese Familien keine Möglichkeit mehr, sich woanders in Sicherheit zu bringen.

Nach Angaben der UNO-Nothilfekoordination OCHA wurden seit Beginn des Gaza-Krieges 98.002 Personen vertrieben, 51 Prozent von ihnen sind Frauen.

Die Zahl der Opfer beziffert IVHA mit 1.904 (Stand: 14.7.2024), darunter sind 466 Tote. Die meisten Toten sind Kämpfer der Hisbollah, der Amal Bewegung, der Syrischen Sozialen Nationalen Partei (SSNP) oder palästinensischer Organisationen. Die Hisbollah allein meldet mindestens 100 tote Zivilisten, darunter Rettungssanitäter, Bauern, einfache Männer, Frauen und Kinder, die ihre Dörfer im Südlibanon nicht verlassen konnten oder nicht verlassen wollten. Am 8. Juli wurden bei einem israelischen Luftangriff auf einen Bauernhof in Jabal Tora, Jezzine in der Beeka-Ebene mehr als 800 Kühe, Schafe, Ziegen und weitere Tiere getötet.

Nasrallah: Es werden keine Panzer mehr da sein

Hassan Nasrallah, Generalsekretär der Hisbollah, wandte sich in einer Rede am Mittwoch direkt an die israelische Armee und sagte: »Wenn Ihre Panzer in den Libanon, in die südlichen Gebiete fahren sollten, brauchen Sie sich über einen Mangel an Panzern keine Sorgen mehr machen – es werden keine Panzer mehr da sein.« Solange der Angriffskrieg gegen Gaza und seine Bevölkerung anhalte, werde die Front der Hisbollah im Libanon aktiv bleiben.

Nasrallah sprach anläßlich des schiitischen Feiertages Ashura, dem 10. Tag des schiitischen Trauermonats Muharram. An diesem Tag wird mit Umzügen und Veranstaltungen an den Märtyrertod von Imam Hussein erinnert und ihm Gefolgschaft versprochen. Angesichts der Angriffe im Süden des Landes waren die Umzüge in den Grenzorten Bint Jbeil und Kfar Kila, in Nabatieh und Tyre abgesagt worden. Nasrallahs Rede wurde per Videoübertragung im Süden von Beirut, in Dakhieh öffentlich übertragen. Die Angriffe gegen Israel würden enden, sobald es einen Waffenstillstand in Gaza gebe, dem der palästinensische Widerstand dort zugestimmt habe, wiederholte Nasrallah die bekannte Position der Hisbollah. »Wenn es zu einem Waffenstillstand kommt, liegt die Verantwortung für Verhandlungen und Antworten beim libanesischen Staat.«

Sollte Israel allerdings die Zivilbevölkerung im Südlibanon weiter angreifen, werde auch die Hisbollah ihre Angriffe in Israel ausweiten. Dann würden die Raketen der Hisbollah auch Siedlungen ins Visier nehmen, die bisher noch nicht von der israelischen Armee evakuiert worden seien, sagte Nasrallah.

Noch am gleichen Tag griffen Einheiten der Hisbollah nach eigenen Angaben die israelischen Siedlungen Sa’ar und Gesher HaZiv (Galiläa) mit »Katjuscha«-Raketen an. In einer Erklärung hieß es, der Angriff sei eine Vergeltung für das »schreckliche Massaker in Umm Al-Tut«, wo am Vortag die drei Kinder getötet worden waren.

Pentagon will Israel stärken

Über wichtige Einzelheiten der Nasrallah-Rede wurde in westlichen Medien nicht berichtet. Stattdessen wurde gemeldet, daß »angesichts der neuen Hisbollah-Angriffe« (dpa) die USA die militärische Zusammenarbeit mit ihrem Verbündeten Israel stärken werden. USA-Kriegsminister Lloyd Austin und sein israelischer Kollege Joav Gallant hätten sich über die aktuelle Lage ausgetauscht, teilte das Pentagon am Dienstag (Ortszeit) in Washington mit. Die beiden Minister hätten dabei auch Möglichkeiten zur »Verbesserung der militärischen Zusammenarbeit« zwischen den USA und Israel »als Reaktion auf eine Reihe regionaler Sicherheitsbedrohungen« erörtert.

Das amphibische Angriffsschiff »USS Wasp« der U.S. Navy befindet sich seit Ende Juni vor der Küste des Libanon im östlichen Mittelmeer. Amphibische Einsatzgrupen und 2.200 Sondereinsatzkräfte und Matrosen sind u.a. für die Evakuierung einer großen Zahl Bürger der USA aus Konfliktgebieten ausgebildet.