Ausland09. August 2023

Zutiefst beunruhigt

Unabhängige »Berlin Gruppe 21« legt Untersuchung zum OPCW-Bericht über einen angeblichen Einsatz chemischer Waffen in Syrien vor

von Karin Leukefeld

Zwei Abgeordnete der »Unabhängigen für den Wandel« (Independents 4 Change, Irland) im EU-Parlament, Claire Daly und Mick Wallace, haben ihren Kollegen in Brüssel eine Untersuchung vorgelegt, die es in sich hat. Es geht um einen Bericht, den die Organisation für das Verbot für Chemiewaffen (OPCW) über den angeblichen Einsatz chemischer Waffen am 7. April 2018 in der Stadt Douma in Syrien in Auftrag gegeben hatte. Seit der Veröffentlichung eines offiziellen Zwischenberichts im Juli 2018 gibt es Widerspruch von Angehörigen des ursprünglichen OPCW-Inspektorenteams, das die Untersuchung in Douma vorgenommen hatte. Ihr erster Zwischenbericht wurde erheblich verändert.

Die beiden EU-Abgeordneten Wallace und Daly haben die »Berlin Gruppe 21« (BG21) beauftragt, eine Untersuchung der verschiedenen OPCW-Berichte vorzunehmen. Die beiden Politiker wollen das EU-Parlament dazu bewegen, über die Kontroverse zu debattieren und an einer Lösung zu arbeiten. Die Untersuchung wurde dem Generaldirektor der OPCW, dem OPCW-Exekutivrat, dem Wissenschaftlichen Beirat sowie allen Mitgliedstaaten der OPCW zugestellt. Ausgewählte außenpolitische Ausschüsse und Komitees, der Generalsekretär der UNO, der UNO-Sicherheitsrat und die UNO-Vollversammlung sowie alle UNO-Mitgliedstaaten erhielten ebenfalls die Untersuchung.

Dreifache Dringlichkeit zur Aufklärung

Die »Berlin Gruppe 21« ist ein Zusammenschluß ehemaliger UNO-Offizieller und Wissenschaftler. Dem Kreis gehören José Bustani, erster Generaldirektor der (1997 gegründeten) OPCW; Richard Falk, Professor für Internationales Recht und UNO-Sonderberichterstatter; Hans von Sponeck, langjähriger UNO-Diplomat bei der UNDP und als stellvertretender UNO-Generalsekretär im Irak, sowie Piers Robinson, Co-Direktor der Organisation für Propagandastudien, politischen Journalismus, Krieg, Außenpolitik und Intervention an den Universitäten Sheffield, Manchester und Liverpool an.

In ihrem Vorwort nennen die Autoren eine »dreifache Dringlichkeit«, warum die »mangelhafte« OPCW-Mission aufgeklärt werden müsse. Die Familien der 40 oder mehr Toten aus Douma müßten wissen, woran ihre Angehörigen tatsächlich gestorben seien. Die Glaubwürdigkeit der OPCW und das Vertrauen ihrer Mitgliedstaaten in die Organisation müsse wiederhergestellt werden. Whistleblower, die den Mut hätten, Fehlentwicklungen aufzuzeigen, verdienten Anerkennung und Schutz.

Detailliert und mit einem umfangreichen Quellenverzeichnis legen die Autoren der Untersuchung Beweise von »Manipulation, Voreingenommenheit und Zensur« vor, deren Ausmaß nicht nur die Chemiewaffenkonvention sondern auch die UNO-Charta in Frage stellen. Um eine Lösung der besorgniserregenden Situation zu finden, haben die Autoren eine Reihe von Handlungsmöglichkeiten aufgelistet und appellieren an politisch Verantwortliche in aller Welt, die wirklichen Geschehnisse in Douma und in der Folgezeit aufzuklären, um das Vertrauen in die OPCW und in die UNO wiederherzustellen.

Selektives Weglassen untergräbt Glaubwürdigkeit

Ausgelöst worden war die Kontroverse unmittelbar nach der Rückkehr des OPCW-Inspektorenteams Anfang Juni 2018. Das Team hatte einen Zwischenbericht fertiggestellt und wartete auf die Reaktion der vorgesetzten Stellen. Dann stellte ein Mitglied der Fact-Finding Mission (FFM) Douma fest, daß es sich bei einem als »Zwischenbericht« zirkulierenden Papier nicht um den Bericht handelte, den er und sein Team vorbereitet hatten, sondern um eine »zensierte« Fassung.

»Durch das selektive Weglassen bestimmter Informationen wurde eine unbeabsichtigte Voreingenommenheit in den Bericht eingebracht, die seine Glaubwürdigkeit untergräbt. In anderen Fällen haben sich einige entscheidende Fakten, die in der zensierten Fassung verblieben sind, in etwas ganz Anderes verwandelt als das, was ursprünglich verfaßt worden war«, schrieb er an seine Vorgesetzten. Sollte der veränderte Bericht tatsächlich veröffentlicht werden, wolle er seine abweichenden Bemerkungen beifügen. Dieses Recht steht OPCW-Inspektoren gemäß der Verifikationsanlage der Chemiewaffenkonvention zu. Doch sein Anliegen wurde ignoriert. Im März 2019 erschien, basierend auf dem geänderten Bericht der Abschlußbericht.

Der emeritierte Physikprofessor Theodore Postol vom Massachusetts Institut für Technologie (MIT) spricht in einem Vorwort von einem »Angriff auf die Zukunft des Internationalen Rechts und der Chemiewaffenkonvention«. Sollte so eine Art von »offenkundig unprofessionellen und amateurhaften Analysen« nicht korrigiert werden, bedeute das für die UNO und die OPCW, daß diese als »Vollstrecker internationalen Rechts einfach aufhören zu existieren«.

Internationale Spannungen

Der interne Briefwechsel sowie Dokumente erreichten zwischen 2019 und 2020 die Internetplattform Wikileaks und wurden dort veröffentlicht. Der Konflikt löste internationale Spannungen in der OPCW und im UNO-Sicherheitsrat aus.

Der angebliche Einsatz chemischer Waffen in Douma, Syrien am 7. April 2018 war von den »Weißhelmen«, einer den bewaffneten oppositionellen Gruppen nahestehenden Hilfsorganisation gemeldet worden. Sie behaupteten, die syrische Luftwaffe habe Wohnhäuser in Douma mit chemischen Waffen angegriffen und dabei mindestens 40 Menschen getötet.

Die syrische Regierung wies die Anschuldigungen zurück und lud die OPCW ein, eine Untersuchungsmission zu schicken, um die Vorwürfe zu untersuchen. Noch bevor die vom UNO-Sicherheitsrat autorisierte Fact-Finding Mission (FFM) in Syrien ihre Arbeit aufnehmen konnte, bombardierten die USA, Britannien und Frankreich – drei Ständige Mitglieder im UNO-Sicherheitsrat – am 14. April 2018 Einrichtungen in Syrien. Der Militäreinsatz war nicht vom UNO-Sicherheitsrat autorisiert.