Ausland09. August 2024

Legende um Hiroshima und Nagasaki

Für die Atombombenabwürfe auf zwei japanische Großstädte vor 79 Jahren gab es keine militärische Notwendigkeit

von Rainer Rupp

Am 6. August setzten die USA zum ersten Mal in der Geschichte eine Atomwaffe gegen die Bevölkerung der japanischen Stadt Hiroshima ein. Wie zum Hohn, und als wären die Luftaufnahmen von der unsäglichen Zerstörungskraft der Bombe nicht entsetzlich genug gewesen, warf drei Tage danach ein weiterer USA-Bomber die zweite nukleare Massenvernichtungswaffe auf die nichtsahnenden Menschen der Großstadt Nagasaki.

Aus den Dokumenten jener Zeit geht hervor, daß schon damals führende Militärs der USA – im Gegensatz zur bis heute verbreitenden Mär – keine militärische Notwendigkeit für den Einsatz dieser beiden, unterschiedslos tötenden, verstümmelnden und verstrahlenden Massenvernichtungswaffen sahen. Denn es war in der politischen und militärischen Führungsriege in Washington längst bekannt, daß sich die japanische Regierung bereits seit geraumer Zeit um Kontakte für Kapitulationsverhandlungen bemühte.

Dokumente, die vor allem in den letzten drei Jahrzehnten veröffentlich wurden, deuten vielmehr darauf hin, daß Washington mit Blick auf die zukünftigen Verhandlungen über die Nachkriegsordnung die Sowjetunion mit dieser nuklearen Machtdemonstration einschüchtern wollte. In diesem politischen Kalkül der USA-Regierung spielten die unzähligen Opfer von Hiroshima und Nagasaki keine Rolle; denn sie waren wertlose Verfügungsmasse. Dabei hat damals offenbar auch der in den USA weit verbreitete Rassismus eine Rolle gespielt.

Erst später versuchten die für den atomaren Massenmord verantwortlichen Politiker, ihre Tat mit angeblich militärischen Notwendigkeiten zu rechtfertigen. Auf diese Weise habe der Krieg schneller beendet werden können und die Gesamtzahl der Opfer sei weitaus geringer gewesen als wenn es zu einen Invasion der japanischen Hauptinsel gekommen wäre, wird behauptet. So wird mit diesem Narrativ aus einem der schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte letztlich sogar ein »humaner Akt«.

Inzwischen hat diese Geschichtsfälschung auch auf japanischer Seite ungeahnte Dimensionen erreicht: Zum diesjährigen Hiroshima-Gedenktag hat der japanische Ministerpräsident Fumio Kishida in seiner Rede die USA mit keinem Wort erwähnt, dafür aber wiederholt Rußland unterstellt, mit dem Einsatz von Atomwaffen zu drohen.

Die von USA-Präsident Harry Truman befohlenen Atombombenabwürfe forderten zwischen 90.000 und 166.000 Todesopfer allein in Hiroshima – fast ausschließlich Zivilisten. Viele wurden sofort getötet, andere starben in den Tagen, Wochen und Jahren danach. In Nagasaki kostete die Atombombe zwischen 39.000 und 80.000 Menschen das Leben.

Selbst von Militärhistorikern der USA wird nicht bestritten, daß es Hiroshima und in Nagasaki keine wichtigen militärischen Ziele gab. Es waren zwei Großstädte mit lebhaftem zivilem Leben. Das wurde von einer Sekunde auf die andere ausgelöscht, als die beiden Atombomben genau über den zivilen Zentren der beiden Städte explodierten.

Die Zahl der Toten, die an den Spätfolgen der Atomwaffeneinsätze starben, und die Zahl der Krüppel und der auf Grund der Verstrahlung der Mütter als Krüppel geborenen Kinder wurde nie genau erfaßt. Aber sie geht in die Hunderttausende. Die Zahl der in Hiroshima und Nagasaki getöteten Menschen wird unter Einbeziehung der Strahlentoten auf eine halbe Million geschätzt.

Als Rechtfertigung für den Massenmord wird – nicht nur in den USA – immer noch behauptet, daß Japan damit zur Kapitulation gezwungen worden sei. Als »Beleg« für diese Lüge wird Japans zurückweisende Antwort auf die sogenannte »Potsdamer Erklärung« von USA-Präsident Truman zitiert. Der hatte während der Konferenz der Großen Drei (USA, Britannien, Sowjetunion) im Potsdamer Schloß Cecilienhof die Regierung Japans zur bedingungslosen Kapitulation aufgefordert. Tatsächlich hatte Tokio nur die »Bedingungslosigkeit« abgelehnt.

Während die drei Großmächte Mitte vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 in Potsdam konferierten, ersuchte Japan am 16. Juli die Sowjetunion, einen Waffenstillstand zu vermitteln. Stalin unterrichtete Truman darüber. Aber der forderte in der »Potsdamer Erklärung« vom 26. Juli die »bedingungslose« Kapitulation. Darauf konnten sich die sechs Mitglieder des »Obersten Rates für die Kriegsführung« in Tokio nicht einigen. Obwohl Kaiser Hirohito, Ministerpräsident Suzuki und Außenminister Togo den Krieg so schnell wie möglich beenden wollten, stellte sich das Militär quer. Die japanische Antwort auf die »Potsdamer Erklärung« fiel entsprechend nuanciert und verklausuliert aus.

Auf der Grundlage historischer Dokumente gingen damals alle Einschätzungen der Militärführung der USA davon aus, daß Japan zu militärischen Großoperationen nicht mehr in der Lage war. Wegen katastrophaler Niederlagen war Ministerpräsident General Kuniaka Koiso bereits am 4. April 1945 zurückgetreten. Neuer Regierungschef wurde der 78 Jahre alte Admiral Kantaro Suzuki, der im Einvernehmen mit dem Kaiser den Krieg so schnell wie möglich beenden sollte, aber aus Furcht vor einem Putsch fanatisierter Militärs vorsichtig agieren mußte. Unterstützung fand Suzuki bei seinem Außenminister Shigenori Togo. All dies war in Washington bekannt.

Ohne weitere diplomatische Bemühungen zur Klärung des Textes und der japanischen Absichten stand für Truman schnell fest, daß die Japaner »nicht verhandeln wollen«. Er gab Befehl zum Atombombeneinsatz gegen Hiroshima. Die Vollzugsmeldung über die Zerstörung der Stadt nahm Truman am 7. August 1945 auf dem Kreuzer »USS Augusta« entgegen und feierte ihn vor der Besatzung als »überwältigenden Erfolg« und »die größte Sache in der Geschichte der Menschheit«.

Der spätere USA-Präsident, General Dwight D. Eisenhower, hatte sich gegen die Bombe ausgesprochen: »Erstens ist Japan bereits geschlagen, und die Bombe einzusetzen war absolut unnötig«, heißt es in seinen Notizen, »und zweitens glaube ich, daß unser Land die Weltöffentlichkeit nicht damit schockieren sollte, indem es eine Waffe einsetzt, die nicht mehr benötigt wird, um amerikanische Leben zu retten. Ich war fest davon überzeugt, daß Japan zu diesem Zeitpunkt eifrig dabei war, nach Möglichkeiten zu suchen, die eine Kapitulation mit geringstmöglichem Gesichtsverlust erlauben würde. Der Minister (Trumans Kriegsminister Stimson) zeigte sich über meine Einwände zutiefst verärgert«, hielt Eisenhower in seinem Buch »Mandate For Change« auf Seite 380 fest.

Warum aber wurde am 6. August die Bombe gegen Hiroshima und drei Tage später sogar eine zweite am 9. August gegen Nagasaki eingesetzt? Offensichtlich wollten die USA angesichts des Eintritts der Sowjetunion in den Krieg gegen Japan ein schnelles Ende des Kriegs im Pazifik zu ihren Bedingungen erzwingen. Die in den Konferenzen der Alliierten in Teheran 1943, in Jalta im Februar 1945 und schließlich in Potsdam im Juli 1945 erzielte Vereinbarung, laut der die Sowjetunion drei Monate nach Beendigung des Krieges in Europa in den Krieg gegen Japan eintreten sollte, war eine entscheidende Wende im Krieg. Die von den Großen Drei vereinbarte Beteiligung der Sowjetunion an der Besetzung Japans sollte verhindert werden, um auf diese Weise die Dominanz der USA im Pazifik in der Nachkriegszeit zu sichern.

Entscheidender Beweggrund dürfte gewesen sein, daß die Demonstration atomarer Stärke als Warnung für den aufsteigenden strategischen Rivalen Sowjetunion gedacht war. Das geht auch aus den Erinnerungen des Nobelpreisträgers für Physik, Joseph Rotblat, hervor, der sich zu der Entscheidung durchgerungen hatte, das »Manhattan Projekt« zu verlassen, nachdem er erfahren hatte, daß die deutschen Faschisten nicht in der Lage waren, eine Atombombe zu bauen. Der Direktor des »Manhattan Projekts«, General Leslie Groves, hatte Rotblat gegenüber ein neues Motiv für die Fertigstellung der Atombombe der USA genannt, nämlich »die Sowjets einzuschüchtern«.

Aus Zeugnissen der Tochter von USA-Präsident Truman geht hervor, daß ihr Vater bereits unmittelbar nach Amtsantritt sich besonders große Sorgen über die potentielle »Bedrohung durch die Sowjetunion« gemacht habe. Somit war der Abwurf der beiden Atombomben der USA nicht nur ein zynisches Kriegsverbrechen und der letzte Akt in der Tragödie des Zweiten Weltkrieges, sondern zugleich auch die Ouvertüre zum Kalten Krieg.

Atomwaffen wurden auch später von den USA immer wieder als politisch-militärische Taktik zur Erpressung eines Gegners genutzt. In den Kriegen in Korea und in Vietnam wurde immer wieder mit dem Gedanken gespielt, Atomwaffen einzusetzen. Auch heute noch droht die USA-Führung ihren Gegnern mit der Atomwaffe, wenn sie erklärt, daß »alle Optionen auf dem Tisch liegen«.