Libanon – die neue Front
Israels Kriegsführung und das Völkerrecht
Israel ist offensichtlich entschlossen, seinen Vernichtungskrieg gegen die Hamas auf die Hisbollah im Libanon auszuweiten. Welche Folgen das für die Bevölkerung hat, wissen wir, die Methoden der gnadenlosen Bombardierung und Vertreibung kennen wir ebenfalls. Nur die offensichtlich lange vorbereitete Manipulation elektronischer Pager und Funksprechgeräte mit Sprengstoff, die aus der Ferne per Funkbefehl gesprengt werden können, war neu.
Ihre zeitgleiche Sprengung am 17. und 18. September tötete mindestens 37 Menschen, darunter ein 9-jähriges Mädchen und einen 11-jährigen Jungen. 3.250 Menschen wurden verletzt, 200 von ihnen schwer. Die Explosionen ereigneten sich in Wohnhäusern, Lebensmittelgeschäften, Märkten, Friseurläden, Autos und bei Beerdigungen. 500 Menschen erlitten schwere Augenverletzungen.
BBC berichtete von dem Augenarzt Elias Warrak, der am Universitätskrankenhaus in Beirut Verletzte behandelte, daß 60 bis 70 Prozent seiner Patienten mindestens ein Auge durch die Explosionen verloren haben. »Bei einigen der Patienten mußten wir beide Augen entfernen. In meinen 25 Jahren in der Praxis habe ich noch nie so viele Augen entfernt wie gestern (17. September).«
Israel hatte etwa 3.000 bis 4.000 Pager und Walkie-Talkies so präparieren lassen, daß sie gleichzeitig explodierten. Die Welt reagierte auf diese neue Waffe mit Verblüffung, war irritiert. Die eilig konsultierte westliche Völkerrechtslehre konnte sich nicht dazu entschließen, in diesen Angriffen einen schweren Verstoß gegen das Völkerrecht zu erkennen: Kämpfer seien bei einem militärischen Konflikt eben auch dann legitime Ziele, wenn sie privat unterwegs seien. Die hohe Anzahl ziviler Opfer wolle man noch nicht bewerten.
Verstoß gegen humanitäres Völkerrecht
Anders allerdings 22 Experten der UNO, darunter 13 Sonderberichterstatter, darunter Francesca Albanese, die Sonderberichterstatterin zur Situation der Menschenrechte in den von Israel besetzten Gebieten, die in einer Erklärung vom 19. September die Explosionen als eine »erschreckende« Verletzung des Völkerrechts bezeichneten. »Zum Zeitpunkt der Angriffe konnte nicht festgestellt werden, wer die einzelnen Geräte besaß und wer sich in der Nähe befand«, schreiben die Experten.
Die Pager und Funkgeräte wurden Berichten zufolge an Personen verteilt, die mit der Hisbollah in Verbindung standen, also offensichtlich Zivilisten, die keine Kämpfer waren. »Gleichzeitige Angriff mit tausenden Sprengsätzen würden unweigerlich gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen, da es nicht möglich wäre, jedes Ziel zu überprüfen und zwischen geschützten Zivilisten und solchen zu unterscheiden, die wegen ihrer direkten Beteiligung an Feindseligkeiten angegriffen werden könnten«, heißt es in der Erklärung.
Das humanitäre Völkerrecht, das vor allem den Schutz der Zivilbevölkerung regeln soll, schreibt in Artikel 51, Absatz 4 des 1. Zusatzprotokolls von 1977 zu den Genfer Konventionen: »Unterschiedslose Angriffe sind verboten.« Darunter versteht der Artikel Angriffe, Kampfmethoden oder -mittel, die nicht gegen ein bestimmtes Ziel gerichtet werden können beziehungsweise deren Wirkungen nicht begrenzt werden können. Dazu gehören zum Beispiel auch Sprengfallen, die nach Artikel 6 Protokoll II zum UNO-Waffenübereinkommen von 1983 verboten sind.
Das sind Sprengkörper, die als harmlose Gegenstände getarnt sind und explodieren, wenn eine Person sich ihnen nähert oder sie berührt. Ferngesteuerte explosive Funkgeräte mögen diesem Begriff der Sprengfalle nicht völlig entsprechen, da damals noch nicht bekannt. Doch das Ziel des Artikels 6, vor Täuschung zu schützen, erfaßt auch diese neue technologische Entwicklung einer Waffe.
Die Experten der UNO schreiben weiter: »Diese Angriffe verletzen das Menschenrecht auf Leben, da es keinen Hinweis darauf gibt, daß die Opfer eine unmittelbare tödliche Gefahr für andere Personen darstellten … Solche Angriffe könnten Kriegsverbrechen wie Mord, Angriffe auf Zivilisten und wahllose Angriffe darstellen.«
Der Angriff auf die Kämpfer der Hisbollah, auch wenn sie sich privat betätigen, mag völkerrechtlich legitim sein. Aber nicht alle Mitglieder der Hisbollah sind Kämpfer, und sie gefährden ihre zivile Umgebung dann besonders, wenn sie sich privat auf Märkten, in Geschäften oder anderen privaten Veranstaltungen bewegen. Daß es unübersehbar offensichtlich zahlreiche zivile Opfer gab, verstößt gegen den völkerrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und macht die Angriffe völkerrechtswidrig.
Angst und Verwirrung
Berichte aus dem Libanon verweisen zudem auf einen anderen problematischen Aspekt der Angriffe, auf die enormen psychologischen Auswirkungen der Explosionen: Angst, Verwirrung, Desorientierung und Paranoia. Die Menschen haben Angst, SMS zu verschicken, zu telefonieren und Laptops zu öffnen. Man kann davon ausgehen, daß dem israelischen Geheimdienst, der nicht ohne Grund hinter diesem Angriff vermutet wurde, diese Wirkungen durchaus bekannt, wahrscheinlich auch beabsichtigt waren.
Die UNO-Experten erklären dazu: »Es ist auch ein Kriegsverbrechen, Gewalt zu begehen, die darauf abzielt, Terror unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten, auch um sie einzuschüchtern oder davon abzuhalten, einen Gegner zu unterstützen … Ein Klima der Angst durchdringt jetzt den Libanon.«
Volker Türk, der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, verurteilte die Anschläge mit den Worten: »Das gleichzeitige Anvisieren von Tausenden von Personen, ob Zivilisten oder Mitglieder bewaffneter Gruppen, ohne zu wissen, wer im Besitz der angegriffenen Geräte war, wo sie sich befanden und in welcher Umgebung sie sich zum Zeitpunkt des Angriffs befanden, verstößt gegen die internationalen Menschenrechte und, soweit anwendbar, gegen das humanitäre Völkerrecht.«
Die UNO-Experten forderten die Staaten zu umfassenden und transparenten Untersuchungen auf und diejenigen, die die Angriffe befohlen und ausgeführt haben, wegen Kriegsverbrechen vor Gericht zu stellen.
Ein zweites Gaza?
Doch dies war nur der spektakuläre Auftakt, dem am 23. September Bombenangriffe folgten, wie sie der Libanon seit 2006 nicht mehr erlebt hat. Die Bombardierungen durch die israelische Armee forderten bis zum Redaktionsschluß dieser Ausgabe mehr als 2.100 Tote und mehr als 10.000 Verwundete, darunter zahllose Kinder, Frauen und Sanitäter.
Die Bewohner im Süden des Libanon werden aufgefordert, sich vor den nächsten Angriffen in Sicherheit zu bringen. Die Menschen kennen diese gnadenlose und brutale Art der Kriegsführung aus dem Gazastreifen. Was dort zum Völkermord führte, kann im Libanon nicht mit dem Kriegsziel gerechtfertigt werden, die eigene Bevölkerung wieder in ihre verlassenen Wohnungen im Norden Israels zurückzubringen.
Schon am 20. September wurde bei einem gezielten Luftangriff auf ein Wohnhaus im Süden von Beirut Ibrahim Aquil, eine führende Persönlichkeit der Hisbollah, getötet. Bei dem Angriff kamen mindestens 37 Menschen, darunter drei Kinder und sieben Frauen, ums Leben, 68 wurden verletzt – eindeutig ein Kriegsverbrechen.
Der Nationale Sicherheitsberater von USA-Präsident Joseph Biden, Jake Sullivan, feierte den Angriff als »gutes Ergebnis« und nannte ihn »Gerechtigkeit für Aquil«. Die USA hatten übrigens eine Belohnung von bis zu 7 Millionen US-Dollar für Informationen ausgesetzt, die zu dessen Ergreifung führen könnten. Zu der hohen Anzahl an zivilen Opfern sagte Sullivan nichts.
Die Opfer solcher gezielten Angriffe kann man jedoch nicht mehr als »Kollateralschaden« legitimieren, sie stehen in keinem Verhältnis zu dem militärischen Ziel, sie sind »erschreckend völkerrechtswidrig«.
Daß die USA-Regierung und ihr folgend die deutsche Regierung nicht über eine Erklärung ihrer Besorgnis über die Eskalation des Konfliktes und eine Versicherung, alles zu unternehmen, daß man nicht in einen zusätzlichen Krieg rutsche, hinauskommen, ist nicht etwa das Eingeständnis ihrer Ohnmacht gegenüber Jerusalem, sondern nur eine Sprachvariante der »deutschen Staatsräson«, nichts tun zu wollen.
Dabei sind beide Staaten die einzigen Kräfte, die effektiv in der Lage wären, dieses Regime zu stoppen und von seinem (selbst-)mörderischen Kurs abzubringen. Reden und Nichtstun könnte auch als Beihilfe durch Unterlassen interpretiert werden.