Die Rakete von Przewodów
NATO gibt nach Raketeneinschlag in Polen Entwarnung. Westliche Politiker hatten Moskau beschuldigt und so Furcht vor einer Konfrontation der NATO mit Rußland geweckt
Nach dem Raketeneinschlag vom Dienstag im polnischen Przewodów gab die NATO am Mittwoch Entwarnung. Am Dienstagabend hatten führende Politiker aus mehreren NATO- und EU-Staaten ohne jeglichen Beleg Rußland für den Beschuß verantwortlich gemacht und damit Befürchtungen ausgelöst, es könne zu einer direkten Konfrontation zwischen der NATO und Rußland kommen.
Alarmbereitschaft
Die Rakete, die am Dienstag auf einem Bauernhof in Przewodów im Osten Polens nahe der Grenze zur Ukraine einschlug und zwei Menschen tötete, ist nicht von den russischen Streitkräften abgefeuert worden. Dies hat NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Mittwoch bestätigt. Der Einschlag der Rakete hatte am Dienstagabend zu größerer Unruhe geführt, insbesondere, nachdem in Polen die Regierung zu einer Notfallsitzung zusammengekommen war sowie anschließend laut Auskunft eines Regierungssprechers »einige militärische Kampfeinheiten und andere uniformierte Dienste in höhere Bereitschaft« versetzt hatte.
Wie mittlerweile bekannt ist, gingen US-amerikanische Experten bereits zu diesem Zeitpunkt davon aus, es könne sich bei dem Einschlag aufgrund der Flugbahn der Rakete nicht um einen russischen Angriff gehandelt haben. Auch ging aus Fotos vom Schauplatz des Einschlags bald hervor, daß die Raketentrümmer exakt zu dem alten sowjetischen Luftabwehrsystem S-300 paßten, das zahlreiche Staaten nutzen, darunter die Ukraine. In der Tat teilte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, nachdem NATO-Spezialisten den Vorfall ausführlich untersucht hatten, ganz ausdrücklich mit: »Unsere vorläufige Analyse legt nahe, daß der Vorfall wahrscheinlich von einer ukrainischen Luftabwehrrakete verursacht wurde«.
»Russische Propaganda«
Ist es am Mittwoch schrittweise gelungen, einigermaßen Klarheit über den Raketenbeschuß von Przewodów zu gewinnen, so hatten bereits am Dienstag erste Reaktionen führender Politiker aus mehreren EU-Staaten einen bemerkenswerten Willen zur Eskalation sogar an der Schwelle zum etwaigen Weltkrieg gezeigt. Noch bevor der Beschuß auch nur ansatzweise aufgeklärt war, behauptete etwa – in voller Kenntnis der Konsequenzen, die ein russischer Angriff auf ein NATO-Mitglied hätte – Lettlands Armeeminister Artis Pabriks auf Twitter: »Das kriminelle russische Regime hat die Raketen abgefeuert, die ... auch auf NATO-Gebiet in Polen landeten.«
Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba twitterte, Moskau verbreite die »Verschwörungstheorie, daß angeblich eine Rakete der ukrainischen Luftverteidigung auf polnischem Territorium niedergegangen« sei: »Niemand sollte russischer Propaganda glauben.« Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im deutschen Bundestag, schrieb ebenfalls auf Twitter, »russische Raketen« hätten da »offenbar Polen und damit NATO-Gebiet getroffen«: »Das ist das Rußland, mit dem hier einige offenkundig und absurderweise immer noch ‘verhandeln‘ wollen.«
Atomkrieg? »Nur keine Angst!«
Die offenkundige Bereitschaft, in einen Krieg der NATO gegen Rußland einzutreten, ist nicht neu; sie war schon kurz nach der russischen Invasion in die Ukraine zutage getreten, als im März die Forderung nach der Errichtung einer Flugverbotszone über ukrainischem Territorium laut wurde. Dazu wäre es erforderlich gewesen, die in Richtung Westen gerichtete russische Flugabwehr mit eigenen Luftangriffen auszuschalten, um den Luftraum über der Ukraine für NATO-Überwachungsjets freizukämpfen; zudem hätten russische Jets, die ihrerseits in den ukrainischen Luftraum eingedrungen wären, unvermittelt abgeschossen werden müssen: Beides wäre faktisch der Beginn eines Krieges zwischen der NATO und Rußland gewesen.
Mitte März hatte Estlands Armeeminister Kalle Laanet gefordert: »All diese Staaten, die eine Flugverbotszone kontrollieren können, müssen handeln«. In der Bundesrepublik Deutschland hatte zur gleichen Zeit der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Thomas Enders, erklärt, die NATO solle »zumindest über den sechs bis acht westlichen Oblasten der Ukraine« eine Flugverbotszone errichten. Der damalige Botschafter der Ukraine in Deutschland, Andrij Melnyk, hatte wegen fehlenden Umsetzungswillens der Bundesregierung beklagt, »Angst« sei »jetzt der Ratgeber«: »Atomkrieg – oh Gott, bloß nichts tun, damit wir nichts riskieren.«
»Keine Diplomatie!«
Die unbedingte Eskalationsbereitschaft korrespondiert mit einer kategorischen Ablehnung von Verhandlungen, die darauf gerichtet wären, zumindest einen Waffenstillstand zwischen Rußland und der Ukraine zu erzielen. So war etwa die Forderung des Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Rolf Mützenich, es müsse »mehr Diplomatie« geben, auf heftigen Unmut gestoßen. Mützenich hatte am 23. Oktober dafür plädiert und darauf hingewiesen, daß im Ukraine-Krieg mit Mitteln der Diplomatie bereits wichtige Erfolge erzielt worden seien, so etwa die Einigung über den Export ukrainischen Getreides über das Schwarze Meer.
Freilich war diese nicht von Berlin oder der EU, sondern von der UNO in enger Zusammenarbeit mit der Türkei ausgehandelt worden. Mützenich war für den Vorstoß nicht nur von Grünen-Politikern, sondern auch von der Vorsitzenden der SPD, Saskia Esken, aufs Schärfste attackiert worden. Vom Präsidenten der Ukraine wurde er wegen seiner wiederholten Forderung nach einer Verhandlungslösung auf eine Liste von Personen gesetzt, die »Informationsterror« betreiben.
Den strategischen Hintergrund für die Weigerung, Verhandlungen zu führen, läßt ein Papier erkennen, das die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock und ihre französische Amtskollegin Catherine Colonna schon vor einiger Zeit verfaßt haben und das jetzt durch einen Artikel in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« vom 15.11.2022 in Auszügen bekannt geworden ist. Darin heißt es, Rußland müsse »abgeschreckt«, »eingedämmt« und »international isoliert« werden; dazu müsse »der Krieg gegen die Ukraine in eine strategische Niederlage [für Rußland] verwandelt werden«.
Nur zur Schau gestellt
Das von den Berliner Polit-Eliten verfolgte Ziel, den Ukraine-Krieg zu nutzen, um Rußland als Machtfaktor auszuschalten, wird zwar von den deutschen Leitmedien, nicht hingegen von der Bevölkerung unterstützt. Schon Ende August ergab eine Umfrage in der Bundesrepublik eine Zustimmung von 77 Prozent für konkrete Bemühungen, Verhandlungen zwecks Beendigung des Krieges einzuleiten; gerade einmal 17 Prozent sprachen sich dagegen aus.
Sogar eine Umfrage, die im September in den USA durchgeführt wurde, ergab eine Zustimmung von 57 Prozent für diplomatische Bemühungen; nur 32 Prozent lehnten Verhandlungen ab. Um größerem Unmut vorzubeugen, hat die Biden-Administration vor kurzem darauf gedrungen, der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski solle nicht mehr darauf insistieren, erst nach einem Sturz des russischen Präsidenten Wladimir Putin mit Moskau zu verhandeln; nur mit zur Schau gestellter Verhandlungsbereitschaft könne man auf Dauer die öffentliche Meinung für sich einnehmen, schrieb am 5. November die »Washington Post«.
In Washington hieß es allerdings zugleich, es gehe dabei nur um die Außenwirkung; wirklich verhandeln solle Selenski nicht. Der ukrainische Präsident ist der Aufforderung umgehend nachgekommen und verlangt nun nicht mehr den Sturz seines Amtskollegen. Tatsächliche Verhandlungen finden allerdings nicht statt.