Sanktionen gegen Nothilfe
Hilfsorganisationen fordern Aufhebung der westlichen Sanktionen gegen Syrien, weil sie die Erdbeben-Nothilfe blockieren. Sanktionen tragen seit Jahren massiv zum Hunger in Syrien bei
Die Sanktionen der EU und der USA gegen Syrien träfen schon »seit Jahren die Bevölkerung schwer«, erklärt der Generalsekretär des Middle East Council of Churches (MECC); ihretwegen komme nun aber auch noch die kirchliche Erdbebenhilfe nicht in Syrien an. Der Leiter des syrischen Roten Halbmonds berichtet, sanktionsbedingter Treibstoffmangel verhindere, daß genug Hilfskonvois in das syrische Erdbebengebiet aufbrechen könnten.
Die Sanktionen werden bereits seit Jahren von Hilfsorganisationen wie der Caritas scharf kritisiert, weil sie Armut und Hunger im Land eskalieren lassen. In Syrien sind, da Nahrungsmittelimporte wie auch die Einfuhr etwa von Dünger und Geräten für die Landwirtschaft sanktionsbedingt kaum noch möglich sind, laut Angaben des World Food Programme zwölf von 22 Millionen Einwohnern dem Hunger ausgesetzt. Statt die Sanktionen aufzuheben, verlangt die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock, Grenzübergänge in Nordsyrien zu öffnen – und macht sich so das Erdbeben zunutze, um eine alte westliche Forderung durchzusetzen.
Der Streit um die Grenzübergänge
Der erbittert geführte Streit um die Grenzübergänge in Nordsyrien dauert mittlerweile seit mehreren Jahren an. Im Jahr 2014, als der Krieg in Syrien noch umfassend tobte, wurden vier Grenzübergänge im Norden des Landes bestimmt, über die Hilfsgüter in Gebiete gebracht werden durften, die nicht von der Regierung in Damaskus kontrolliert wurden. Seitdem hat sich die Lage im Land jedoch beträchtlich verändert; die Regierung hat die Kontrolle über weite Teile des Landes zurückgewonnen. Sie ist seit Jahren bereit und in der Lage, den Transport von Hilfsgütern nicht mehr über das Ausland, sondern über syrisches Territorium in diejenigen Gebiete zu gewährleisten, die bis heute von Regierungsgegnern gehalten werden.
Faktisch geht es besonders um die Provinz Idlib, in der bis heute der Al-Qaida-Ableger Hayat Tahrir al Sham (HTS) die Macht ausübt. Die syrische Regierung in Damaskus besteht darauf, Hilfstransporte für Idlib über ihr Territorium abzuwickeln, und wird dabei von Rußland unterstützt, das im UNO-Sicherheitsrat nur noch Lieferungen über einen einzigen Grenzübergang aus der Türkei direkt nach Idlib zustimmt, den Übergang Bab al Hawa. Der Westen wiederum, der die erneute Öffnung der Grenzübergänge erzwingen will, um Syriens Souveränität zu schwächen, stellt sich bei den Lieferungen über syrisches Territorium quer.
Die Folgen der Sanktionen
Eine Ursache dafür sind die Sanktionen gegen Syrien, die die westlichen Staaten bis heute aufrechterhalten und die Hilfslieferungen über syrisches Territorium verkomplizieren, wenn nicht gar unmöglich machen. Sanktionen wurden von den USA, von der EU und weiteren westlichen Staaten verhängt; die EU hat sie zuletzt Ende Mai vergangenen Jahres um ein Jahr verlängert.
Dabei sind ihre Folgen für die syrische Bevölkerung katastrophal. Bereits seit Jahren wird regelmäßig darauf hingewiesen, daß sie die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und Medikamenten verhängnisvoll erschweren. In einer Analyse, die im Juli 2022 an der renommierten Bostoner Tufts University veröffentlicht wurde, heißt es, die Sanktionen verhinderten nicht nur den Import von Lebensmitteln, indem sie – den Transport- und den Finanzsektor blockierend – Lieferung und Bezahlung völlig unmöglich machten. Sie schädigten auch die in Syrien traditionell starke Landwirtschaft, indem sie die Einfuhr etwa von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln, von Gerät wie Bewässerungspumpen und Bulldozern und sogar von Treibstoff verböten.
Hinzu komme, daß sie stark zum Absturz der syrischen Währung beigetragen hätten und nicht zuletzt Überweisungen von Angehörigen aus dem Ausland – eine wichtige Einkommensquelle – erschwerten.
»Die Bombe der Armut«
Entsprechend werden die Sanktionen international schon seit Jahren immer wieder scharf kritisiert. Zu den Organisationen, die regelmäßig die sofortige Aufhebung der Sanktionen gefordert haben, da sie der Bevölkerung schweren Schaden zufügen, gehört auch das katholische Hilfswerk Caritas. Auf einer Veranstaltung der Caritas rund zehn Jahre nach dem Beginn der Unruhen in Syrien im März 2011 beklagte der Apostolische Nuntius in Damaskus, Mario Zenari, in dem Land, das jetzt eine Zeitlang von Bomben und Raketen verschont geblieben sei, sei »die schreckliche ‚Bombe‘ der Armut explodiert«.
Tatsächlich grassieren Armut und Hunger in Syrien, verursacht insbesondere durch die westlichen Sanktionen, in furchtbarem Ausmaß. Von den etwas über 22 Millionen Einwohnern litten laut Angaben des World Food Programme (WFP) zwölf Millionen an »Nahrungsmittelunsicherheit«, also an Hunger, und 2,5 Millionen seien einem nesonders großen Hungerrisiko ausgesetzt.
Eine der Ursachen sei, hieß es, daß sich der Preis für einen Standard-Nahrungsmittelkorb von Oktober 2019 bis Oktober 2022 um den Faktor 15 verteuert habe. Ende Januar teilte das WFP mit, in Syrien gebe es jetzt mehr Hunger denn je seit Beginn des Kriegs; demnächst könnten 70 Prozent der Bevölkerung außerstande sein, sich angemessen zu ernähren.
Die Bevölkerung im Visier
Nach dem katastrophalen Erdbeben in der Türkei und in Syrien, das in beiden Ländern Tausende Todesopfer gefordert und verheerende materielle Schäden angerichtet hat, fordern nun Hilfsorganisationen mit neuem Nachdruck die sofortige Aufhebung der Sanktionen. Die Sanktionen verschlimmerten die ohnehin »schwierige humanitäre Situation«, kritisierte am Dienstag der Leiter des syrischen Roten Halbmonds, Khaled Hboubati. So gebe es ihretwegen etwa keinen Treibstoff, um Hilfskonvois in die Erdbebengebiete zu entsenden. Die EU müsse die Maßnahmen umgehend aufheben.
Dieser Forderung schloß sich der Generalsekretär des Middle East Council of Churches (MECC), Michael Abs, an. Im MECC sind rund 30 Kirchen und kirchliche Gemeinschaften sämtlicher großen Konfessionen zusammengeschlossen. »Die Sanktionen treffen seit Jahren die Bevölkerung schwer«, hält Abs fest: »Wegen der Sanktionen kommt nun auch die Erdbebenhilfe nicht in Syrien an, weil wir keine Gelder aus dem Libanon nach Syrien überweisen können.«
Experten weisen zudem darauf hin, daß die Sanktionen nicht nur die Nothilfe blockieren: Sie hätten auch das Ziel, den Wiederaufbau kriegszerstörter Infrastruktur zu verhindern – und würden deshalb den Wiederaufbau nach dem Erdbeben wohl ebenfalls erschweren.
Die Ziele des Westens
Westliche Regierungsstellen haben bereits erklärt, daß sie die Sanktionen trotz deren fataler Auswirkungen auf die Nothilfe nicht aufheben werden: Ein solcher Schritt wäre »kontraproduktiv«, wird etwa Ned Price, Sprecher des USA-Außenministeriums, zitiert.
In Berlin ist ebenfalls keine Bereitschaft zu erkennen, den einmütigen Forderungen christlicher wie auch islamischer Hilfsorganisationen aus dem Nahen und Mittleren Osten nachzugeben. Stattdessen versteift sich die deutsche Bundesregierung darauf, den alten Konflikt um die Öffnung der Grenzübergänge in Nordsyrien für Hilfslieferungen wieder aufleben zu lassen, um die Erdbebenkatastrophe zur Durchsetzung lange verfolgter politischer Ziele zu nutzen. »Zentral« sei jetzt nicht eine Aufhebung der Sanktionen, sondern »die Öffnung der Grenzübergänge«, sagte Außenministerin Annalena Baerbock am Dienstag; »alle internationalen Akteure – Rußland eingeschlossen« – sollten jetzt »ihren Einfluß auf das syrische Regime nutzen«, um die alte westliche Forderung durchzusetzen.
Welches Interesse Rußland haben soll, der Forderung einer Politikerin nachzukommen, die sich im Krieg mit ihm sieht, ist allerdings unklar – umso mehr, als das Land, ebenso wie die Vereinigten Arabischen Emirate, Iran und weitere Staaten, längst Nothilfe nach Damaskus auf den Weg gebracht hat.