Ausland19. Juni 2024

Marine Le Pen hat Rechtsradikalen Manieren beigebracht

Aus Front National wurde mögliche Regierungspartei

von Ralf Klingsieck, Paris

Nach dem großen Erfolg bei der EU-Wahl und der Neuwahl des Parlaments steht die rechtsextreme Bewegung Rassemblement national in Frankreich kurz vor der Regierungsübernahme. Verhindern könnte das nur noch ein machtvoller Cordon sanitaire républicain über rechte wie linke Parteiengrenzen hinweg. Die Hoffnung darauf ist allerdings gering.

Daß es so weit kommen könnte, hätte 1972 bei der Gründung der rechtsnationalistischen Partei Front National durch den ehemaligen SS-Mann Pierre Bousquet und den Gelegenheitspolitiker Jean-Marie Le Pen wohl niemand gedacht. Anfangs war die Partei ein Sammelbecken von ehemaligen Kollaborateuren der Nazi-Besatzer, von Nostalgikern der französischen Kolonialvergangenheit und von reaktionären Ex-Offizieren, für die General de Gaulle, der Algerien und andere Kolonien in die Unabhängigkeit entlassen mußte, ein »Verräter« war.

Der Parteipräsident Jean-Marie Le Pen, der drei Mal in die Nationalversammlung und sieben Mal ins EU-Parlament gewählt wurde, scheute in seinem Streben nach Medienaufmerksamkeit vor keiner Provokation zurück. Er versuchte, die Geschichte umzuschreiben, leugnete Verbrechen der Nazis und stand mehrfach wegen Negationismus vor Gericht oder weil er die Gaskammern der KZs als »bedeutungslose Details der Geschichte« bezeichnet hatte. Als Politiker begnügte er sich damit, gegen den Kurs der jeweiligen Regierung zu opponieren und ein ewiger Störfaktor zu sein.

2011 trat Jean-Marie Le Pen aus Altersgründen vom Parteivorsitz der Front National zurück und seine Tochter Marine Le Pen wurde zu seiner Nachfolgerin gewählt. Doch wenn er glaubte, sie würde die Partei in seinem Sinne weiterführen, so hatte er sich gründlich geirrt.

In der Partei hatte sich ein Generationswechsel vollzogen und mit der Juristin Marine Le Pen gaben immer mehr jüngere Leute den Ton an, die durchaus in der Politik des Landes mitmischen wollten. Dafür mußte die Partei aber für breitere Kreise respektabel und wählbar werden. Um auch mehr in bürgerlichen Kreisen Fuß zu fassen, wurde die Forderung nach Austritt aus EU und Eurozone fallengelassen und durch einen eher diffusen Euroskeptizismus ersetzt. Auf wirtschaftspolitischem Gebiet wurde zur Wiederherstellung der durch die kapitalistische Globalisierung verlorengegangenen ökonomischen Souveränität vom Staat gefordert, die nationale Wirtschaft stärker zu fördern, durch Importsteuern zu schützen und Freihandelsabkommen zu kündigen. Damit hat sich Marine Le Pen auch vom Neoliberalismus abgewandt, dem ihr Vater anhing.

Politisch wurde nicht mehr angestrebt, das herrschende System aus der Opposition heraus, sondern von innen zu destabilisieren und zu verändern.

Doch dafür mußte die Partei ihre schmuddelige Vergangenheit abstreifen und sich ein respektables Image zulegen. Vor allem wies Marine Le Pen immer wieder die Charakterisierung ihrer Bewegung als rechtsradikal zurück und bezeichnete sie als national-konservativ. Die sogenannte Entdiabolisierung der Partei hat Marine Le Pen systematisch und mit Erfolg betrieben. Sie vermied verbale Entgleisungen und ließ solche auch bei anderen nicht mehr zu. Wer durch rassistische Äußerungen oder durch offenen Antisemitismus für Schlagzeilen sorgte, wurde aus der Partei ausgeschlossen. Ihrem Vater, der auch im Ruhestand nicht aufhörte, mit negationistischen Äußerungen zu provozieren, erteilte sie Redeverbot in der Öffentlichkeit und gegenüber den Medien, und als er sich nicht daran hielt, wurde auch er 2015 aus der Partei ausgeschlossen. Um deren Vergangenheit abzuschütteln, wurde die Front National 2018 in die Bewegung Rassemblement national (RN) umbenannt.

Antisemitismus ist jetzt für die Bewegung tabu, er wurde durch Islamophobie ersetzt. Marine Le Pen scheut sich nicht einmal, sich als »Beschützerin der französischen Juden« gegen den gemeinsamen Feind, den »politischen Islam«, zu präsentieren. Damit ist sie so erfolgreich, daß selbst Serge Klarsfeld, der sein Leben lang Naziverbrechen gegen französische Juden untersucht und dokumentiert hat, RN und Marine Le Pen öffentlich als »fest auf demokratischem Boden« würdigte und gegen den Vorwurf des Antisemitismus verteidigt.

Die ideologische Grundposition der Ausländerfeindlichkeit, die nach wie vor das politische Fundament von RN darstellt, wird dadurch kaschiert, daß ein Unterschied zwischen den verschiedenen Arten von Ausländern gemacht wird. Etliche von ihnen haben sich mit Erfolg in die französische Gesellschaft integriert, haben die Staatsangehörigkeit und den Paß und sind fast schon »echte« Franzosen. Von ihnen sind einige sogar Mitglied der Bewegung und werden stolz vorgezeigt. Das Feindbild stellen dagegen die Sans Papiers dar, die als Arbeitsplatzkonkurrenten, »Sozialhilfebetrüger« und potentielle Gefahr für die öffentliche Sicherheit präsentiert werden und die es massiv abzuschieben gilt.

Bezeichnend ist, daß diese grobe Schematisierung nur in den Regionen funktioniert, wo es wenig Ausländer, dafür umso mehr Vorurteile ihnen gegenüber gibt. Wo man im tagtäglichen Kontakt Erfahrungen mit Ausländern als Arbeitskollegen und Nachbarn hat, gibt es auch bei RN-Anhängern weniger Vorurteile.

Als die Bewegung nach der Wahl 2022 mit 88 Abgeordneten in die Nationalversammlung einzog, erließ Marine Le Pen einen Verhaltenskodex, der zur Folge hatte, daß ihre Vertreter bald bei den Angestellten des Parlaments als die freundlichsten, die höflichsten und die am ordentlichsten angezogenen Deputierten galten. Das ändert nichts an ihren verinnerlichten rechtsradikalen Positionen, aber die sind heute ansprechend verpackt. Der neue Stil setzt sich auch in den Wahlbezirken durch, wo es die RN-Abgeordneten verstehen, sich geduldig die Sorgen der einfachen Menschen anzuhören und sich ihrer Probleme anzunehmen, was die französischen Linken im Laufe der Jahre immer mehr vernachlässigt haben.

So ist heute RN die Interessenvertreterin der Globalisierungsopfer und der sozial in jeder Hinsicht zu kurz gekommenen Franzosen, die früher links gewählt haben, sich aber inzwischen eher bei RN verstanden und zu Hause fühlen. Sie sind meist politisch ungebildet und unerfahren und damit besonders empfänglich für die schlichten populistischen Losungen und Argumente. An ihren größten Sorgen richtet RN die eigenen Programmschwerpunkte aus, also in erster Linie die schwindende Kaufkraft, dann die Unsicherheit und schließlich die illegale Einwanderung. Besonders erfolgreich ist RN mit der Formel von der »nationalen Priorität« bei der Vergabe von Arbeitsplätzen, Wohnungen und Sozialhilfe.

So kommt es, daß die linken Parteien, die früher in den Industriegebieten und den Arbeitervorstädten einen festen Stand hatten, diesen verloren und heute mehr Anhänger bei Menschen ausländischer Herkunft haben.