Leitartikel12. April 2023

Der aus der Reihe tanzt

von

Frankreichs Präsident ist immer wieder für eine Überraschung gut – und nicht jede davon sollte man sogleich als negativ abtun. Mag sein, daß seine Reise nach China auch einer innenpolitischen Agenda folgte, immerhin konnte er sich dadurch für ein paar Tage dem Zorn von Millionen Franzosen entziehen, die mit inzwischen elf Streik- und Protesttagen ihre Wut über die Rentenpläne des Präsidenten ausdrücken – und ein Ende dieser Proteste ist vorerst nicht abzusehen. Mag sein, daß er auch mit einem anderen Thema in die Schlagzeilen kommen wollte – und das zumindest ist ihm gelungen.

Bereits die Vorbereitung seiner Peking-Reise, zu der er auch die EU-Chefin eingeladen hatte, war Anlaß zu einigen Fragen, die jedoch weniger laut gestellt wurden. Während Ursula von der Leyen in ihrer bekannten Manier kurz zuvor in einer Grundsatzrede mehr Abstand von China gefordert hatte, reiste Macron mit einer vielköpfigen Wirtschaftsdelegation ins Reich der Mitte, und wie man hörte, wurden etliche für beide Seiten lukrative Geschäfte abgeschlossen.

Auf dem Rückflug überraschte er dann den kollektiven »Werte-Westen« mit neuen Tönen, die so gar nicht in die Konfrontationspolitik der USA passen wollen, der die EU-Führung sich zu unterwerfen gedenkt. Die EU solle bei dieser politischen Linie »nicht Mitläufer sein«, sagte Macron, und sie solle sich nicht »an den amerikanischen Rhythmus und eine chinesische Überreaktion anpassen«. Die EU dürfe nicht »zu einem Zeitpunkt der Klärung der eigenen strategischen Position in fremden Krisen gefangen« sein und nicht zum »Vasall zwischen den USA und China« werden, »obwohl man ein dritter Pol sein könne«.

Das paßt nun gar nicht ins Konzept all jener, die nie bereit waren, den Kalten Krieg zu beenden und mit größter Bereitschaft die Kriege der USA in aller Welt mitmachten oder zumindest wohlwollend tolerierten. Vor allem paßt es nicht ins Konzept jener, die das seit 1945 entstandene System der internationalen Beziehungen auf den Kopf stellen und durch eine »Ordnung« ersetzen wollen, die sich auf nicht näher definierte »Werte« beruft.

Es könnte durchaus sein, daß Herr Macron ein wenig politischen Realismus gekostet und verstanden hat, daß die Insel Taiwan tatsächlich ein Teil Chinas ist – auch wenn das nicht der vielzitierten »Werteordnung« entspricht. Die Volksrepublik China vertritt laut gültigen Beschlüssen der UNO, die auch in bilateralen Verträgen mit den USA völkerrechtlich anerkannt sind, das gesamte Territorium Chinas, also auch die vor ihrer Küste liegende Insel.

Die Regierung Chinas strebt – ohne Zeiträume zu definieren – die Vereinigung mit Taiwan an. Nur wer böswillig interpretiert, schafft es, aus Pekinger Äußerungen den Willen zu einer militärischen Eroberung herauszulesen. Das betrifft auch Manöver der chinesischen Seestreitkräfte vor der eigenen (!) Küste, die dann in den Medien, auch in luxemburgischen, als »Säbelrasseln« bezeichnet werden, während gleichzeitig Manöver der USA zu Wasser und in der Luft vor der chinesischen Küste – also viele Meilen entfernt von der eigenen – als völlig normal und gerechtfertigt angesehen werden. Wie laut wäre das Geschrei, wenn China seine Militärmanöver vor San Francisco oder New York abhielte?

Emmanuel Macron will sich offenbar nicht in ein weiteres militärisches Abenteuer unter der Regie des Weißen Hauses und den Pentagon hineinziehen lassen. Unter diesem Aspekt sollte vielleicht seine Diagnose von 2019 über den »Hirntod« der NATO neu bewertet werden.