Das Sondertribunal
Annalena Baerbock will Rußland aburteilen lassen – vor einem Sondertribunal, damit alle westlichen Angriffskriege seit 1999 straflos bleiben können
Mit einem neu zu schaffenden Sondertribunal will die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock Rußland wegen des Krieges in der Ukraine aburteilen lassen. Das Sondertribunal soll nach ukrainischem Recht vorgehen. Es soll allerdings außerhalb der Ukraine angesiedelt werden und mit international ausgewähltem Personal besetzt werden; als ein möglicher Standort ist Den Haag im Gespräch.
Dort führte Baerbock Anfang dieser Woche Gespräche über das Vorhaben. Eine Klage vor dem Internationalen Strafgerichtshof gilt als wenig aussichtsreich: Dort haben die westlichen Mächte, um nicht selbst verurteilt zu werden, die formalen Voraussetzungen für die Aburteilung eines Angriffskrieges, wie es in Berichten heißt, allzu »eng formuliert«. Tatsächlich ist eine Verurteilung von Rußlands Krieg in der Ukraine unter den Bedingungen des – für sämtliche Staaten gleichermaßen geltenden – internationalen Rechts im Prinzip undenkbar, solange westliche Angriffskriege straflos bleiben. Letzteres gilt insbesondere für die Kriege gegen Jugoslawien (1999), den Irak (2003) und Libyen (2011).
Angriffskrieg gegen Jugoslawien
Den ersten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg nach dem einseitig deklarierten Ende des Kalten Krieges entfesselte die NATO am 24. März 1999 gegen Jugoslawien. Daß ihr Krieg ein klarer Bruch des internationalen Rechts war, hat der damalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder später offen eingestanden. Die Bundesrepublik Deutschland habe »zusammen mit der NATO einen souveränen Staat gebombt, ohne daß es einen UNO-Sicherheitsratsbeschluß gegeben hätte«, erklärte Schröder am 9. März 2014 auf einer Diskussionsveranstaltung der Wochenzeitung »Die Zeit«: »Ohne Sicherheitsratsbeschluß eine kriegerische Auseinandersetzung zu führen, war ein Verstoß gegen das Völkerrecht.«
Bereits Monate vor dem Überfall auf Jugoslawien hatte der deutsche Diplomat Hans Arnold gewarnt: »Würden die NATO-Staaten ... ohne UNO-Mandat mit militärischer Gewalt gegen Jugoslawien vorgehen, dann würden sie nicht nur einen eklatanten Völkerrechtsbruch begehen, sondern zweifellos auch weiteren Völkerrechtsverletzungen Tür und Tor öffnen. ... Kein wie auch immer gearteter Zweck könnte dieses Mittel heiligen.«
Horst Grabert, früherer Chef des Bundeskanzleramts (1972 bis 1974), Ex-Botschafter in Belgrad (1979 bis 1984), konstatierte gleichfalls vorab mit Blick auf den sich deutlich abzeichnenden NATO-Angriffskrieg: »Alle Beteiligten ... kennen die Völkerrechtswidrigkeit der Aktion und camouflieren dies auch nur sehr unvollkommen.«
Angriffskrieg gegen den Irak
Den nächsten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg entfesselten die Vereinigten Staaten am 20. März 2003 gegen den Irak, den sie mit der Behauptung legitimierten, Bagdad verfüge über biologische und chemische Massenvernichtungswaffen. Daß dies nicht zutraf, daß die Bush-Adminstration das auch wußte, zur Begründung ihres Überfalls aber dennoch an ihrer Lüge festhielt, ist längst nachgewiesen.
Ebenso wie der Krieg gegen Jugoslawien wurde auch derjenige gegen den Irak, an dem sich von Beginn an auch britische, australische und polnische Truppen beteiligten, nicht vom UNO-Sicherheitsrat gebilligt; er hat deshalb keinerlei Rechtfertigung im internationalen Recht. Die menschlichen, gesellschaftlichen und materiellen Flurschäden, die der Irak-Krieg anrichtete, stellten diejenigen des Krieges gegen Jugoslawien noch weit in den Schatten.
Die Schätzungen zur Zahl der zivilen Todesopfer schwanken; sie reichen von einer Zahl zwischen 275.000 und 306.000 (Costs of War Project, Brown University) bis zu 650.000 alleine bis zum Jahr 2006. Letztere Zahl bezieht die Todesopfer durch Kriegsfolgen ein: vom zerstörten Gesundheitssystem bis hin zu Mangelernährung. Hinzu kommt, daß durch Krieg und Besatzung nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die sozialen Strukturen im Irak vollständig zerstört wurden; letztlich schuf dies unter anderem den Boden für den Aufstieg des IS.
Angriffskrieg gegen Libyen
Einen dritten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg starteten Frankreich und Britannien, als sie mit ihren militärischen Operationen in Libyen die UNO-Resolution 1973 vom 17. März 2011 brachen. Die Resolution hatte die Einrichtung einer Flugverbotszone über Libyen sowie »alle notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung« gestattet. Unter dem Vorwand, all dies durchzusetzen, gingen die Streitkräfte Frankreichs und Britanniens – mit der Unterstützung der NATO – einen Schritt weiter und bombardierten das Land mit dem Ziel, in Tripolis eine neue Regierung zu installieren. In NATO-Stäben waren auch deutsche Soldaten an der Kriegführung beteiligt.
Die Zahl der unmittelbaren Todesopfer ist nicht bekannt; sie liegt mutmaßlich erheblich unter derjenigen im Irak. Die britische Organisation Airwars hat zwischen 1.166 und 2.519 zivilen Todesopfern allein im Jahr 2011 nachgewiesen. Mit einer höheren Zahl wird jedoch gerechnet.
Wie im Irak wiegen in Libyen insbesondere die langfristigen sozialen Schäden schwer: Das Land ist gesellschaftlich weitgehend zerrüttet und in einem mörderischen Bürgerkrieg versunken, der bis heute allenfalls Phasen relativer Ruhe, aber keine Lösung kennt. Der Libyen-Krieg hat zudem entscheidend dazu beigetragen, den Krieg im Norden Malis zu entfachen, der bis heute den gesamten Sahel in Brand zu setzen droht.
Straflosigkeit für den Westen
Für keinen der drei großen völkerrechtswidrigen Kriege, die die Mächte Europas und die USA im vergangenen Vierteljahrhundert angezettelt haben, ist jemals auch nur irgendjemand zur Rechenschaft gezogen worden. Sogar nachgewiesene Kriegsverbrechen bleiben in aller Regel straflos – im Gegensatz zu Journalisten bzw. Whistleblowern, die Kriegsverbrechen aufdecken. Bekanntestes Beispiel ist Julian Assange. Die USA haben zeitweise sogar Sanktionen gegen die Chefanklägerin am Internationalen Strafgerichtshof, Fatou Bensouda, verhängt: Sie wollte mutmaßliche Kriegsverbrechen der USA in Afghanistan untersuchen.
Ganz anders verhält es sich nun mit Blick auf Rußlands Krieg in der Ukraine und mit Blick auf Kriegsverbrechen im Ukraine-Krieg. Zu russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine ermitteln mittlerweile laut Berichten mehr als ein Dutzend Staaten inklusive Deutschland – darunter Staaten, die sich und ihren Militärs faktisch Straffreiheit beim Führen der erwähnten Angriffskriege und bei Kriegsverbrechen gewähren.
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock will Rußland jetzt zusätzlich wegen des Verbrechens der Aggression vor Gericht stellen. Im Prinzip könnte der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) Ermittlungen anstellen. Allerdings sind die formalen Voraussetzungen dafür, wie berichtet wird, auf Druck der westlichen Mächte »eng formuliert« worden: Es habe »Furcht« bestanden, »selbst vor den IStGH gezogen zu werden – zum Beispiel wegen des Krieges im Irak«, hieß es am 17. Januar in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. Baerbock sucht nun nach einer Alternative. Dazu führte sie zu Wochenbeginn Gespräche in Den Haag.
Nach ukrainischem Recht
Die deutsche Außenministerin schlägt nun die Einrichtung eines Sondertribunals vor, das ukrainisches Recht anwenden soll. Konkret soll Artikel 437 der ukrainischen Verfassung genutzt werden; er sieht für Planung, Vorbereitung und Führen eines Angriffskriegs 10 bis 15 Jahre Haft vor. Das Sondertribunal soll seinen Sitz außerhalb der Ukraine haben und, um ihm wenigstens den Anschein von Legitimität und Überparteilichkeit zu verleihen, um »internationale Elemente« angereichert werden, etwa international ausgewählte Staatsanwälte und Richter. Als Standort komme, so heißt es, Den Haag in Frage.
Faktisch wäre die Schaffung eines solchen Sondertribunals ein weiterer schwerer Schlag gegen das internationale Recht. Während dieses von Institutionen wie dem IStGH gesprochen wird, würde das Sondertribunal geschaffen, um den IStGH umgehen zu können. Es würde sich ausschließlich gegen – tatsächliche oder angebliche – russische Kriegsverbrechen richten, westliche Aggressionsverbrechen und auch ukrainische Kriegsverbrechen aber ignorieren und damit faktisch zwei getrennte Rechtssphären schaffen – eine, in der Rußland bestraft wird, und eine zweite, in der die westlichen Mächte straflos bleiben. Es liefe dem Kerngedanken internationalen Rechts – daß es nämlich für alle gleichermaßen gilt – offen zuwider und wäre, da es meilenweit davon entfernt wäre, Gerechtigkeit schaffen zu können, nichts anderes als ein neues Polit-Kampfinstrument der westlichen Welt.