Ausland13. September 2024

»Ein langsamer, aber qualvoller Niedergang«

Neue Personenkontrollen an den deutschen Grenzen lösen Spannungen mit Nachbarstaaten aus. Ex-EZB-Präsident warnt vor »qualvollem Abstieg« der EU

von German Foreign Policy

Die Anordnung der deutschen Bundesinnenministerin Nancy Faeser, an allen deutschen Außengrenzen wieder Personenkontrollen einzuführen – offiziell vorläufig, ein Ende ist aber nicht in Sicht –, löst in Brüssel und in mehreren EU-Mitgliedstaaten deutlichen Unmut aus. Die Maßnahme wird ab dem kommenden Montag, 16. September umgesetzt; die Kontrollen an den Grenzen zu Österreich, die seit 2015 stattfinden, wie auch an den Grenzen zu Polen und zu Tschechien, die im Oktober 2023 eingeführt wurden, werden verlängert.

Aus rein praktischer Perspektive heißt es verärgert etwa aus Luxemburg, man hoffe, der Schritt werde die zahlreichen Arbeitspendler und den sonstigen alltäglichen Grenzverkehr »nicht übermäßig belasten«, berichtet die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« am Mittwoch.

»Als wäre die AfD (schon) an der Macht«

Prinzipielle Kritik äußert Alberto Alemanno, Professor für Europarecht an der École des hautes études commerciales de Paris (HEC Paris), der konstatiert, es handle sich um »einen offensichtlich unverhältnismäßigen Bruch des Grundsatzes der Freizügigkeit im Schengenraum«, der mit EU-Recht nicht vereinbar sei.

Christopher Wratil, Assoziierter Professor für Government am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien, schrieb auf X, Berlin dürfe nun »nicht mehr damit kommen, irgendwer anders halte sich nicht an EU-Recht«. Die deutsche Bundesregierung handle zudem, »als wäre die AfD (schon) an der Macht«. Tatsächlich kommentierte der extrem rechte niederländische Politiker Geert Wilders Berlins neue Grenzkontrollen auf X so: »Gute Idee, müssen wir auch machen!«

»Keine Übernahmen«

Auf entschiedene Ablehnung stößt auch der Plan, die Zurückweisungen an den Grenzen deutlich auszuweiten. Rein praktisch verweigert sich Österreich dem Ansinnen. Bereits am Montag hatte Innenminister Gerhard Karner erklärt, er habe den Direktor der österreichischen Bundespolizei »angewiesen, keine Übernahmen durchzuführen«. Als sein Hauptmotiv darf gelten, daß die Zahl der Asylanträge, die die Wiener Behörden zu bearbeiten hätten, rasch ansteigen würde.

Völkerrechtler äußern vor allem grundsätzliche Einwände. So schreiben das internationale Flüchtlingsrecht wie auch EU-Normen, vor allem die »Dublin-II«-Verordnung, vor, daß Flüchtlinge an den Grenzen Gelegenheit haben müssen, einen Asylantrag zu stellen, der dann auch bearbeitet werden muß. Wenn ein Flüchtling zuvor in einen anderen EU-Staat eingereist ist, dann kann er zwar dorthin abgeschoben werden; allerdings muß zuvor klar festgestellt werden, in welchem Staat der Flüchtling zuerst die EU betreten hat, und dann gilt es, die Abschiebung mit den Behörden des betreffenden Landes zu regeln.

All das kostet Zeit; währenddessen muß der Flüchtling zumindest versorgt werden. Dies ist etwa bereits in den Schnellverfahren am Flughafen in Frankfurt am Main (»Flughafenverfahren«) der Fall.

Die Praxis an den Grenzen

Bei alledem ist unklar, wie die Praxis an den deutschen Grenzen aussieht. Die Bundespolizei hat bereits im vergangenen Jahr 35.618 Personen an der Grenze zurückgewiesen; im ersten Halbjahr 2024 waren es sogar 21.601 Personen – ein erheblich höherer Prozentsatz als 2023. Zudem fällt auf, daß der Anteil derjenigen, die an der Grenze den Wunsch äußern, Asyl zu beantragen, merkwürdig schwankt. An der deutsch-österreichischen Grenze blieb er relativ konstant: Im ersten Quartal 2023 lag er bei 14, im zweiten Quartal 2024 bei 11 Prozent aller Personen, die ohne gültige Papiere bzw. ohne Visum Einreise begehrten. An der deutsch-polnischen Grenze fiel der Anteil von 57 Prozent im ersten Quartal 2023 auf 23 Prozent im zweiten Quartal 2024.

Unklar ist unter anderem, ob Einreisewillige auf die Möglichkeit, Asyl zu beantragen, in einer Sprache hingewiesen werden, die ihnen vertraut ist, und ob die Grenzbeamten zuverlässig in der Lage sind, möglicherweise auf Englisch vorgetragene Asylbegehren zu verstehen. Aus der Partei Die Linke heißt es, man habe sogar Kenntnis von Fällen, in denen Grenzbeamte Flüchtlingen empfohlen hätten, auf einen Asylantrag zu verzichten, weil die Chance, wirklich Asyl zu erhalten, in Deutschland äußerst gering sei. Die Bundesregierung weist das selbstverständlich zurück.

»Eine absolute Ausnahme«

Mit erkennbarer Skepsis äußerte sich zu dem deutschen Vorstoß auch die EU-Kommission. Kontrollen an den Schengen-Binnengrenzen dürften bloß dann vorgenommen werden, wenn sie unzweifelhaft »notwendig und verhältnismäßig« seien, bestätigte eine Sprecherin der Kommission am Dienstag in Brüssel. Deshalb »sollten derartige Maßnahmen eine absolute Ausnahme bleiben«. Ob das auf die geplanten deutschen Grenzkontrollen zutreffe, werde zur Zeit überprüft.

Eindeutig ablehnend äußerte sich Polens Ministerpräsident Donald Tusk. Er erklärte mit Blick auf die Pläne, die Zurückweisungen auszuweiten: »Ein solches Vorgehen ist aus polnischer Sicht inakzeptabel«. Man wolle »dringende Konsultationen« mit anderen »Nachbarn Deutschlands« abhalten, um über Reaktionen zu diskutieren.

Polen sorgt sich – wie Österreich –, es werde eine viel höhere Zahl an Asylanträgen bearbeiten müssen, falls die Bundesrepublik Deutschland ihre Zurückweisungen stark ausweitet. Allerdings weisen Beobachter darauf hin, daß Polen seine Grenze zu Belarus mit Stacheldrahtverschlägen in Höhe von mehreren Metern abgeschottet hat und dort selbst illegale Zurückweisungen in hoher Zahl durchführt. Polnische Gerichte, so heißt es, ahndeten »die mit EU-Recht schwer zu vereinbarende Praxis der Zurückweisung bisher nicht«.

Anschluß verpaßt

Während die neuen deutschen Grenzkontrollen zu Konflikten mit mehreren Nachbarstaaten führen, das Schengen-System bedrohen und außerdem Kosten in Höhe von vielen Milliarden Euro verursachen könnten, sagt ein aktuelles Papier des ehemaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi der EU auch rein wirtschaftlich eine düstere Zukunft voraus. Während Chinas Wirtschaft unverändert wachse und gegenüber dem Westen aufhole, falle die EU gegenüber den USA seit zwei Jahrzehnten zurück, konstatiert Draghis Bericht zur Zukunft der Wettbewerbsfähigkeit der EU.

Ursache sei vor allem, daß die EU die »digitale Revolution und die damit verbundenen Produktivitätsgewinne weitgehend verpaßt« habe. Nun müsse dringend die Produktivität erhöht werden; dies erfordere EU-Investitionen in Höhe von 750 bis 800 Milliarden Euro pro Jahr – nahezu fünf Prozent der EU-Wirtschaftsleistung. Im Rahmen des »Marshallplans« seien nach dem Zweiten Weltkrieg ein bis zwei Prozent der Wirtschaftsleistung bereitgestellt worden – erheblich weniger, als heute nötig sei. Unterblieben die Investitionen, dann drohe ein weiterer Abstieg; dann sei auch »das europäische Sozialmodell« nicht mehr finanzierbar. »Wenn die EU jetzt nicht handelt«, sagt Draghi voraus, »steht ihr ein langsamer, aber qualvoller Niedergang bevor.«