Newroz statt Erdogan
Türkische Regierung will HDP ausschalten. Hunderttausende trotzen Verbotsverfahren bei Friedens- und Neujahrsfesten
Die Bilder aus der Türkei könnten gegensätzlicher nicht sein: Am Morgen des vergangenen Sonntag rückte eine Hundertschaft Polizisten in das türkische Parlament in Ankara, um den HDP-Politiker Ömer Faruk Gergerlioglu festzunehmen. Der Abgeordnete harrte dort in einer politischen Mahnwache aus, seit am 17. März die Parlamentsmehrheit der islamistisch-faschistischen AKP-MHP-Allianz seine Immunität aufgehoben und ihm sein Mandat aberkannt hatte. Der Menschenrechtler war wegen einer zu »Terrorpropaganda« zurechtgelogenen Friedensbotschaft von einer willfährigen Justiz zu einer Haftstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt worden.
Ebenfalls am 17. März reichte die Generalstaatsanwaltschaft vor dem Verfassungsgericht eine auf das Verbot der HDP abzielende Klage ein. Die HDP ist die zweitgrößte Oppositionspartei im Parlament, Nummer drei in der Türkei und erhielt zuletzt rund sechs Millionen Wählerstimmen. Zudem wird ein fünfjähriges politisches Betätigungsverbot für mehr als 680 HDP-Politiker angestrebt, darunter die Parteichefs Mithat Sancar und Pervin Buldan sowie der seit 2016 inhaftierte ehemalige Vorsitzende Selahattin Demirtas.
Der türkische Autokrat Erdogan versucht so, sich mit der Ausschaltung seiner politischen Gegner eine Mehrheit bei möglicherweise vorgezogenen Wahlen zu sichern. Der HDP wirft er vor, politischer Arm der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans, PKK, zu sein, die in der Türkei wie auch in der EU und in den USA als »Terrororganisation« diffamiert wird.
Allein, Einschüchterung und Eindämmung funktionieren nicht. Während der Abgeordnete Gergerlioglu demütigend in T-Shirt, Schlafhose und Hausschlappen auf die Polizeiwache verbracht wurde, strömten Hunderttausende in Diyarbakir, Istanbul und vielen anderen Städten des Landes auf die Straßen, um das kurdische Neujahrs- und Freiheitsfest Newroz zu feiern – und Erdogan die Stirn zu bieten.
In der südosttürkischen Metropole Diyarbakir zeigte sich der HDP-Kovorsitzende Mithat Sancar vor einer schier unüberschaubaren Menge betont kämpferisch. Die türkische Regierung versuche, seine Partei mithilfe der Justiz zu verbieten, weil sie politisch nicht zu besiegen sei. Die Anklage werde als »große Schande« in die Geschichte der türkischen Justiz eingehen. »Niemand kann uns in die Knie zwingen, solange das Newroz-Feuer brennt«, bekundete Sancar.
»Newroz ist Freiheit, Frieden, Widerstand. Newroz ist Aufstand, Gleichheit, Gerechtigkeit und Demokratie.« Die politischen Geiseln Erdogans seien »unsere Würde, unser Stolz, ihr Kampf und Vermächtnis, ihre Botschaft, ihre Stimme und ihr Atem sind unsere Verantwortung«. Die Regierung werde mit ihrem Druck nicht durchkommen und keinen Erfolg haben. »Also, dann habt ihr die HDP verboten – und was macht ihr mit dem Volk? Wo wollt ihr dieses Volk einsperren? Welche Macht reicht aus, um diese Überzeugung zu stoppen?«
In Ankara wurde zwischenzeitlich der seines Mandats beraubte HDP-Abgeordnete Gergerlioglu wieder freigelassen. »Ihr könnt mich mit Gewalt aus der Nationalversammlung herausholen, aber ihr könnt mich niemals aus dem Herzen der Nation entfernen«, schrieb er auf Twitter, bevor er sich auf den Weg zur Newroz-Kundgebung in der Hauptstadt machte. »Vielleicht werde ich noch einmal aufgehalten, aber ich werde bis zu meinem letzten Atemzug die Wahrheit aussprechen!« Auch er betont euphorisch: »Verzweifelt nicht, wir werden gewinnen.«
Die EU ist derweil dabei, Erdogan eine »positive Agenda« anzubieten und eine Ausweitung der Zollunion zu verhandeln. Statt sich unmißverständlich an die Seite der Demokratinnen und Demokraten in der Türkei zu stellen, bereitet EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einen Besuch beim Autokraten vor.