Kein Mäppchen, kein Pausenbrot
Mehr Kinderarmut im Klassenzimmer. Armut der Eltern auch immer deutlichere Spuren
Kinder und Jugendliche sind in Deutschland überaus stark von Armut bedroht. Die Sorgen der Eltern ums fehlende Geld gehen an den Jungen und Mädchen nicht einfach so vorbei. Das zeigt sich deutlich auch an den Schulen, wie eine neue Studie bestätigt.
Ein großer gesellschaftlicher Konflikt wie die Kinderarmut spiegelt sich an Schulen oft im Kleinen. Hier fehlt das Federmäppchen oder Schreibheft, dort das Pausenbrot, der eine wird kurz vorm Schulausflug stets krankgemeldet, die andere war noch nie im Museum, geht nicht zum Kinderarzt oder kann nicht schwimmen. Lehrerinnen und Lehrer sind da so etwas wie ein Frühalarm, weil sie fast täglich mit den Kindern und Jugendlichen zusammen sind, wie eine repräsentative Forsa-Befragung im Auftrag der Robert Bosch Stiftung zeigt.
Ein »dramatisches Ergebnis«
Sie beobachten, daß die Armut der Eltern auch immer deutlichere Spuren im Klassenzimmer hinterläßt bei den Jungen und Mädchen. Kinderarmut ist aus Sicht der Lehrkräfte in allen sozialen Lagen präsenter als im Jahr zuvor, wie das Schulbarometer zeigt. Ein »dramatisches Ergebnis« sei das, sagt Dagmar Wolf, die den Bereich Bildung der Robert Bosch Stiftung leitet.
Jede dritte Lehrkraft gab in der am Mittwoch veröffentlichten Befragung an, Kinder und Jugendliche machten sich häufiger Sorgen um die finanzielle Situation ihrer Familie als bislang, in sozial benachteiligten Lagen ist es sogar jede zweite (48 Prozent). Ebenfalls mehr als jede Dritte (37 Prozent) nimmt fehlendes oder unzureichendes Schulmaterial wie Hefte oder Bücher wahr, häufiger als früher kommen Schülerinnen und Schüler auch ohne Frühstück in die Schule kommen (30 Prozent). Ein Viertel der Lehrkräfte berichtet, ihre Schüler nähmen seltener an mehrtägigen Klassenfahrten teil. Und 16 Prozent stellen häufiger als im vergangenen Jahr fest, daß ihre Schüler das Essensgeld gar nicht oder zu spät bezahlen können.
»Arme Kinder werden zu oft zu armen Erwachsenen«
»Armut ist für Betroffene äußerst schambehaftet«, sagt Dagmar Wolf. Eltern, Kinder und Jugendliche hätten Strategien, um die eigene prekäre finanzielle Lage nicht öffentlich sichtbar werden zu lassen. »Sie empfangen beispielsweise keinen Besuch zu Hause oder reichen bei außerschulischen und mit Kosten verbundenen Aktivitäten kurzfristig eine Krankmeldung ein.«
Dagmar Wolf warnt zudem vor den Folgen der Armut: »Arme Kinder werden zu oft zu armen Erwachsenen. Dieser Kreislauf muß durchbrochen werden«, sagt sie. »Fehlendes Geld im Elternhaus verhindert die Teilhabe junger Menschen am sozialen und kulturellen Leben. Das hat auch Auswirkungen auf die psychosoziale Gesundheit.«
Pädagogen müßten »armutssensibel« werden und sich bewußt sein, daß es Familien mit begrenzten finanziellen Mitteln gebe. »Sie müssen nicht nur in der Lage sein, die Auswirkungen von Armut auf Kinder und Jugendliche zu erkennen, sondern auch Stigmatisierungen entgegenwirken.«
2,2 Millionen Kinder und Jugendliche armutsgefährdet
Armut lasse sich Kindern nicht immer ansehen. Deshalb müßten Lehrkräfte die Quote der Schüler aus Sozialtransfer-Familien kennen, sagt Wolf. »Sie müssen wissen, wo es zu Hause Schwierigkeiten gibt, um sensibel vorgehen zu können.«
Nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes können knapp 2,2 Millionen der etwa 14,3 Millionen Kinder und Jugendlichen in Deutschland unter 18 Jahren als armutsgefährdet gelten. Betroffen sind vor allem Jungen und Mädchen in alleinerziehenden Familien oder in Familien mit drei und mehr Heranwachsenden.
Weil Armut relativ ist und sich nicht allein am Geld bemessen läßt, wird in Deutschland meist der Begriff »Armutsgefährdung« verwendet. Wenn jemand weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung hat, gilt er als »armutsgefährdet« – Kinder und Jugendliche aus solchen Haushalten ebenfalls. Die Schwelle lag laut Statistischem Bundesamt im vergangenen Jahr für eine alleinlebende Person bei etwa 1.250 Euro netto im Monat.
Quelle für weitere Konflikte
Kinderarmut ist keineswegs die einzige Baustelle der Lehrkräfte im Klassenzimmer, aber sie kann die Quelle sein für weitere Konflikte, wie auch das jüngste Schulbarometer wieder zeigt.
Auffallend ist, daß Befragte vor allem das Verhalten der Schüler nennen, wenn es um die größte Herausforderung in ihrem Beruf geht (34 Prozent). Mehr als drei Viertel der Lehrkräfte beobachten Konzentrationsprobleme in ihren Klassen (81 Prozent). Ungefähr ebenso viele klagen über zu starken Onlinegebrauch zum Beispiel durch Handys (79 Prozent), zwei von drei sind es sogar an den Grundschulen (66 Prozent). Jede dritte Lehrkraft (31 Prozent) nimmt Ängste bei den Kindern und Jugendlichen wahr.
Die meisten machen sich auch Sorgen wegen Motivationsproblemen (70 Prozent) oder Aggressivität (27 Prozent), allerdings haben diese Werte im Vergleich zur Corona-Pandemie abgenommen.
Einen Hebel sieht Sabine Walper, Direktorin des Deutschen Jugendinstituts (München), in der gezielten Sozialarbeit, die aus ihrer Sicht noch deutlich stärker ausgebaut werden muß. »Daß es eine Not gibt und den dringenden Bedarf, die Unterstützung für Schulen in sozial schwachen Lagen auszubauen, wird sehr, sehr deutlich«, sagt sie. »Wir sehen, wie stark Armut verbreitet ist und wie sehr sie hineinragt in die Verhaltensentwicklung.«
Mit dem Deutschen Schulbarometer läßt die Robert Bosch Stiftung seit 2019 regelmäßig repräsentative Befragungen zur aktuellen Situation der Schulen in Deutschland durchführen. Für die aktuelle Ausgabe wurden zwischen dem 13. und 23. Juni 2023 insgesamt 1032 Lehrkräfte an allgemein- und berufsbildenden Schulen in Deutschland vom Meinungsforschungsinstitut forsa befragt.