Wem gehört die Krim?
Überlegungen zur völkerrechtlichen Bedeutung der Abspaltung der Krim von der Ukraine und zu einer möglichen Lösung
Seit jeher ist die Halbinsel Krim im Nördlichen Schwarzmeer wegen der Komplexität ihrer Vorzüge – politisch, ökonomisch, militär-strategisch und nicht zuletzt klimatisch – ein begehrtes und daher auch oft umstrittenes Objekt der Begehr unterschiedlichster Völker, Ethnien, Religionen und letztlich auch weltlicher Herrscher.
Besiedelten weit vor dreitausend Jahren Kimmerer und Taurer die Krim, folgten ihnen alsbald die Skythen, denen wiederum Griechen, Römer, Alanen, Sarmaten, Goten, Hunnen und Chasaren folgten, und damit gleichzeitig Anhänger unterschiedlicher Religionen.
Der Besetzung des byzantinischen Chersones im Jahre 988 durch Großfürst Wolodimir, der das russisch-orthodoxe Christentum aus der Taufe hob, sollte die Entwicklung der Krim nicht unwesentlich beeinflussen. Armenier, Venezianer und Genueser hinterließen ebenfalls ihre Spuren mit der Errichtung von Handelsrouten und Siedlungen. Der Islam wird für lange Zeit vorherrschende Religion, als die Halbinsel im 13. Jahrhundert von den Mongolen erobert wird.
Nach Ende des ersten Russisch-Türkischen Krieges im Jahre 1774 wird im Frieden von Küçük Kaynarca die Unabhängigkeit der Krim besiegelt, ehe Zarin Katharina die Große die Halbinsel im Jahre 1783 durch den Fürsten Potjomkin annektieren und »für die Ewigkeit« als dem Russischen Reich zugehörig deklarieren läßt.
Ein Großteil der Tataren flieht daher von der Krim ins Osmanische Reich. Ihre Bevölkerungsmehrheit wird daraufhin Geschichte und beschleunigt die Russifizierung der Krim, wobei Katharina gleichzeitig den Zuzug westeuropäischer Siedler befördert, womit die Kultur und damit das Leben auf der Krim vielfältiger werden.
Nicht zuletzt dadurch bestimmen kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Rußland und dem Osmanischen Reich auch weiterhin die Lage auf der Halbinsel, die schließlich von 1853 bis 1856 im Krimkrieg eskaliert. In diesem Krieg – der als erster moderner Stellungskrieg der Weltgeschichte gilt – stand Rußland dem Osmanischen Reich und dessen Verbündeten Großbritannien, Frankreich und Sardinien-Piemont gegenüber.
Eine sprunghafte Entwicklung
Ähnlich wie in großen Teilen Europas erlebte die Krim in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine sprunghafte Entwicklung. So etablierte sich die Südküste der Krim erstmals als Kur- und Erholungszentrum.
Nach bitteren Jahren des Bürgerkrieges vertrieben Einheiten der Roten Armee unter dem Kommando von Michail Frunse im November des Jahres 1920 die letzten Weißgardisten von der Halbinsel.
Die Krim wurde zur autonomen sozialistischen Sowjetrepublik erklärt.
Infolge der von Stalin verordneten massiven »Umsiedlung« ethnischer Minderheiten und der neuen Russifizierungswelle wurden zehntausende tatarische Familien in den 20er Jahren nach Sibirien und Kasachstan evakuiert.
Im Jahre 1944 wurde die Krim durch die Roten Armee von der deutschen Wehrmacht befreit und die zerstörte Hauptstadt Sewastopol mit dem Titel »Heldenstadt« ausgezeichnet. Stalin ließ kurz danach mit der Begründung, die Tataren und andere Minderheiten hätten mit den Deutschen kollaboriert, weitere über 200.000 Menschen nach Sibirien und Mittelasien deportieren. Damit war die Halbinsel Krim nun fast vollständig von Russen besiedelt.
Auf der Krim leben heute kaum Ukrainer. Neben der russischen Bevölkerung gibt es noch eine türkische Minderheit, die auf 12 Prozent geschätzt wird. Einen beständigen ukrainischen Staat hat es vor 1991 nicht gegeben. Vor dem ersten Weltkrieg gehörte die Westukraine als Ostgalizien zu Österreich-Ungarn. Nur in diesem Gebiet wird im Alltag von den Menschen mehrheitlich Ukrainisch gesprochen. Selbst in der Hauptstadt Kiew wurde fast nur Russisch gesprochen.
Forderung nach Eigenstaatlichkeit
Die Bevölkerung der Krim wehrte sich schon seit langem gegen die zwanghafte Zugehörigkeit zur Ukraine. Das führte am 20.1.1991 zu einem Referendum der Krimbevölkerung, das eine Eigenstaatlichkeit forderte. Nach dem Referendum verabschiedete der Oberste Rat der Ukraine (das Parlament) das Gesetz »Über die Wiederherstellung der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik Krim innerhalb der Sowjetrepublik Ukraine«. Im Anschluß daran wurde der Hinweis auf die Wiederherstellung der Autonomie in die ukrainische Verfassung von 1978 aufgenommen. Im September 1991 nahm der Oberste Rat der Krim die »Erklärung über die staatliche Souveränität« an. Die per Volksabstimmung gebilligte Verfassung der Krim von 1992 verlieh der Krim auch das Recht sich für eine Wiedereingliederung an Rußland zu entscheiden. 1995 wurde diese Verfassung einseitig vom Präsidenten der Ukraine per Erlaß aufgehoben, was einem Bruch der Verfassung gleichkam.
Schon seit Jahren gab es auf der Krim starke anti-ukrainische Ressentiments. Der Hauptgrund war dabei die in den staatlichen Behörden sichtbar zunehmende Korruption. Die Stimmung wurde verstärkt, als spätere ukrainische Regierungen den Vielvölkerstaat (im Westen gibt es auch ungarische, slowakische und rumänische Minderheiten) in einen »ukrainischen Nationalstaat« umwandelten. Nach dem Maidan-Putsch vom Februar 2014 mit der Machtübernahme westukrainischer Nationalisten erreichte der Unmut in der Bevölkerung der Krim einen neuen Höhepunkt.
Die Unabhängigkeitserklärung des Parlaments der Autonomen Republik Krim wurde von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung unterstützt und am 16. März 2014 trotz des Boykotts der türkischen Minderheit bei einer hohen Wahlbeteiligung von über 80 Prozent mit überwältigender Mehrheit von über 90 Prozent bestätigt. Auch der anschließende Beitritt der unabhängigen Krim zur Russischen Föderation entsprach dem Willen der Menschen auf der Krim.
Völkerrechtliche Aspekte
Aus Anlaß der Feierlichkeiten zum 300. Jahrestag des Vertrages von Perejaslaw, in dem sich, aus russischer Sicht, die Ukraine der Oberhoheit Rußlands anschloß, schenkte im Jahre 1954 der Erste Sekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und Staatsoberhaupt der UdSSR Nikita Chruschtschow die Krim der Ukrainischen Sowjetrepublik.
Diese an den Bewohnern der Krim vorbei getroffene innenpolitische Entscheidung von Chruschtschow war, obwohl scheinbar lediglich ein staatsrechtlich relevanter Akt, eine Mißachtung des Staats- und Völkerrechts. Das Mindeste wäre ein Referendum gewesen, in dessen Ergebnis die »Schenkung« an die Ukraine hätte stattfinden können.
Aus dieser Perspektive ist das Narrativ, Rußland habe die Krim mit der Aufnahme in die Russische Föderation annektiert, absolut falsch. Demzufolge waren auch das Referendum auf der Krim und deren Abspaltung von der Ukraine nicht völkerrechtswidrig. Sie verstießen zwar gegen die Verfassung der Ukraine, woraus sich jedoch kein Bruch des Völkerrechts ergibt. Rußland hätte auch den Beitritt der Krim nicht ablehnen müssen, denn die ukrainische Verfassung bindet Rußland nicht.
Aus der Sicht Rußlands war der Schutz der Abspaltung der Krim von der Ukraine ein Akt der Notwehr. Weil die Krim-Verfassung von 1992 das Recht auf eine Volksabstimmung vorsah, wäre ihre Verhinderung durch das ukrainische Militär ein Rechtsbruch gewesen. Der Schutz war also durch das Notwehrrecht gerechtfertigt.
Übrigens waren die USA und Britannien genau darüber informiert, daß die Bewohner der Halbinsel Krim Teil der Russischen Föderation werden wollten. Das beweisen Dokumente des britischen Außenministeriums, deren Geheimhaltung aufgehoben und die im Nationalarchiv Londons veröffentlicht wurden. Die ganze Empörung war also ein Sturm im Wasserglas.
»Annexion« bedeutet im Völkerrecht die gewaltsame Aneignung von Land gegen den Willen des Staates, dem es zugehört, durch einen anderen Staat. Annexionen verletzen das zwischenstaatliche Gewaltverbot, die Grundnorm der rechtlichen Weltordnung.
Was auf der Krim vonstattenging, war etwas anderes: eine Sezession, die Erklärung der staatlichen Unabhängigkeit, bestätigt durch ein Referendum, das die Abspaltung von der Ukraine gemäß Völkergewohnheitsrecht, d h. gemäß Selbstbestimmungsrecht, unabhängig vom internationalen Recht billigte. Den daraufhin erfolgten Antrag auf Beitritt zur Russischen Föderation nahm das russische Parlament an.
Selbst wenn ein Geber, hier die De-facto-Regierung der Krim, rechtswidrig handelt, macht er den Annehmenden nicht zum Wegnehmer. Man mag die ganze Transaktion aus Rechtsgründen für nichtig halten. Das macht sie dennoch nicht zur Annexion, zur räuberischen Landnahme mittels Gewalt, einem völkerrechtlichen Titel zum Krieg.
Es handelte sich hier um eine Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Völker nach Art. 1 Abs. 1 des UNO-Zivilpaktes, wonach alle Völker das Recht auf Selbstbestimmung haben. Auf dieser Grundlage können Völker frei über ihren politischen Status entscheiden und in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung gestalten. In Anwendung der Kosovo-Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs vom 22. Juli 2010 verletzt eine einseitige Unabhängigkeitserklärung eines Teilstaates in keiner Weise das internationale Recht. Das internationale Recht kennt kein Verbot einer Deklaration der Unabhängigkeit. Die Behörden der Krim waren sogar nach Art. 138 Abs. 2 der ukrainischen Verfassung »zur Organisation und Durchführung lokaler Referenden« berechtigt. An der Unabhängigkeitserklärung der Krim war also nichts illegal.
Präzedenzfall Kosovo
Auch die Erklärung der Unabhängigkeit von der Ukraine verletzt keine völkerrechtliche Norm und könnte dies gar nicht. Sezessionskonflikte sind eine Angelegenheit innerstaatlichen, nicht internationalen Rechts. Diesen Status quo des Völkerrechts hat der Internationale Gerichtshof vor vier Jahren in seinem Rechtsgutachten für die UNO-Generalversammlung zur Sezession des Kosovo bestätigt. Die Erklärung der Unabhängigkeit erfolgte einseitig durch das Parlament, auf ein Referendum wurde verzichtet.
Wenn die Bevölkerung des zu Serbien gehörenden Kosovo ihr aus dem Völkergewohnheitsrecht erwachsendes Selbstbestimmungsrecht auf Sezession oder Abspaltung von Serbien und Gründung eines eigenen Staates, was dem staatsrechtlichen Beitritt in einem anderen Staat gleichkommt, wahrnehmen kann, dann steht auch der Krim, dem Donbass, Transnistrien, Abchasien, Südossetien, ja auch den Katalanen und den Schotten dieses Recht zu.
Gefährliche Optionen mag man denken. Wohl wahr für Staaten, die ihre Minderheiten diskriminieren und nicht schützen, jedoch in der Komplexität seiner Ausführung nicht zu unterschätzen. Trotzdem bleibt es das Recht der Völker, wenngleich auch und gerade hierbei die internationalen politischen Kräfteverhältnisse eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielen.
Im Übrigen gab es im Südsudan im Jahr 2011 mit aktiver Unterstützung der USA und der EU ein Referendum über die Abspaltung vom Sudan, in dessen Ergebnis sich der Südsudan zu einem selbständigen Staat erklärte.
Nun öffnet sich jedoch, wie in der verhalten geführten Debatte zu bemerken, hier die Möglichkeit für allerlei sinistre Schachzüge im Streit um die passenden Rechtsbegriffe. So wenig das Völkerrecht ein Verbot der Sezession kennt, so wenig akzeptiert es umgekehrt ein Recht darauf. Es trifft dazu keine Regelung.
Die Mitgliedstaaten der UNO haben ersichtlich kein Interesse an der positiven Setzung eines Rechtstitels, der die Beschädigung, ja Zerstörung ihrer eigenen Territorien durch sezessionsgeneigte Minderheiten erlauben würde. Die Gemeinschaft der Staaten, so die saloppe Fußnote der Völkerrechtslehre, ist nicht an einer territorialen Schwächung ihrer territorialen Integrität interessiert, und daher eher nur in Ausnahmen an der Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechts eigener Teile der Bevölkerung interessiert.
Es gibt keine Logik des Entweder-Oder im Völkergewohnheitsrecht und im Völkerrecht. Das Völkerrecht kennt Formen kollektiven Handelns, zu denen es sich neutral verhält. Die Sezession ist ein exemplarischer Fall. Ein allgemeines Verbot ginge ins Leere, da dessen mögliche Adressaten dem Völkerrecht nicht unterworfen sind. Eine Erlaubnis dazu wird in einer Vielzahl internationaler Dokumente seit Jahrzehnten verneint.
Zahllose Probleme, die damit zusammenhängen, sind in der Völkerrechtsdoktrin seit langem umstritten. Über bestimmte Grundlagen besteht aber weitgehend Einigkeit. Danach war die russische Anerkennung der Krim als beitrittsfähiger unabhängiger Staat zwei Tage nach ihrer Abspaltung lediglich vorschnell.
Bewahrung der völkerrechtlichen Grundbegriffe
Freilich müssen sich die empörten westlichen Staaten nun an ihre eigenen Nasen fassen. Am 17. Februar 2008, erklärte die provisorische Zivilverwaltung im Kosovo dessen Unabhängigkeit vom serbischen Zentralstaat. Das verstieß, wiewohl der Internationale Gerichtshof das zwei Jahre später verneint hat, gegen einschlägiges spezielles Völkerrecht, nämlich die Resolution 1244 des UNO-Sicherheitsrats vom Juni 1999, die den Kosovo nach der NATO-Intervention unter die Hoheitsgewalt der UNO gestellt und zugleich die Unverletzlichkeit der serbischen Grenzen garantiert hat. Einen Tag nach dieser Sezession haben England, Frankreich und die USA, drei Tage später auch Deutschland den Kosovo als unabhängigen Staat anerkannt. Die EU-Mitgliedstaaten Griechenland, Rumänien, die Slowakei, Spanien und die Republik Zypern haben die Anerkennung verweigert.
Also konnte sich Rußland im Fall der Krim auf den Gleichbehandlungsgrundsatz berufen! Hier wackelt die westliche Behauptung der »Völkerrechtswidrigkeit« des russischen Handels gewaltig.
Auch die Anerkennung des Kosovo kann als überhasteter Akt und damit als völkerrechtswidriger Eingriff in den Anspruch Serbiens auf Achtung seiner territorialen Integrität gewertet werden. Damals hat Rußland den Westen scharf kritisiert.
Rußland hat eine vom Westen angewendete Völkerrechtsverletzung wiederholt, in mäßig dramatischem Modus und politisch keineswegs wie ein hasardierender Gangster. Der nun entstandene Zustand war für die Krim langfristig wohl ohnehin unumgänglich. Und die Form, in der er nun herbeigeführt wurde, mag bei all ihrer Unerfreulichkeit gravierendere Konflikte vermieden haben.
Wenn nicht alle Zeichen trügen, ist der Westen soeben dabei, sich für eine verfehlte Außenpolitik die Quittung einer welthistorischen Blamage zuzuziehen. Er sollte deren Kollateralschäden nicht allzu weit in die Sphäre des Völkerrechts ausdehnen.
Die Posaunen für eine »regelbasierte Ordnung« sollten daher auch schnellsten zu den 1948 in San Francisco vereinbarten Grundsätzen des Völkerrechts zurückkehren, wenn sie den zu erwartenden politischen Bumerang vermeiden wollen.
Die Krise läßt sich nur mit einem vernünftigen Kompromiß lösen. Also Waffenstillstand und Friedensverhandlungen. Der Westen könnte sein Gesicht wahren, wenn das Referendum auf der Krim vom 16. März 2014 unter Aufsicht der OSZE wiederholt würde. Dieses Ergebnis müßte von der Welt anerkannt werden. An dem aktuellen Zustand wird das aber nichts ändern.
Die Gebiete Donezk und Lugansk könnten zu Autonomen Republiken innerhalb des ukrainischen Staates werden, wie es die »Autonome Republik Krim« von 1991 bis 2014 war.
Die NATO müßte erklären, grundsätzlich keine neuen Mitglieder mehr aufzunehmen. Damit wäre auch ein Beitritt der Ukraine ausgeschlossen. Die EU würde sich mit der Aufnahme eines so großen Landes mit einem so großen Rückstand bei der wirtschaftlichen Entwicklung und angesichts der vielfältigen Probleme ohnehin übernehmen.