Ausland29. Juni 2024

Kesseltreiben gegen Neue Volksfront

Vorgezogene Wahl ebnet Frankreichs Rechtsextremen den Weg zur politischen Macht

von Ralf Klingsieck, Paris

Die vorgezogene Parlamentswahl, die Präsident Emmanuel Macron durch die Auflösung des Parlaments am Abend der schmählich verlorenen EU-Wahl herbeigeführt hat und deren erster Wahlgang am Sonntag stattfindet, sollte eigentlich die hinter ihm stehenden politischen Kräfte stärken und ihm selbst neue Legitimität für die restlichen drei Jahre seiner Amtszeit verschaffen. Doch statt dessen zeichnet sich ab, daß dieses Wahlmanöver zum »Steigbügel zur Machtergreifung für die Rechtsextremen« wird, wie es ein Kommentator in Paris treffend auf den Punkt brachte.

Noch nie in der 1972 als Front national gegründeten und 2018 in Rassemblement national (RN) umbenannten Bewegung konnten so viele Wähler gewonnen werden wie jetzt. Laut jüngsten Umfragen kann RN mit 36 Prozent der Wählerstimmen rechnen, wobei 32 Prozent von ihren eigenen Anhängern kommen und weitere 4 Prozent von denen der Bündnispartner. Das sind zum einen Eric Zemmours ultrarechte Partei Renouveau und zum anderen der Teil der rechtsbürgerlichen Oppositionspartei der Republikaner, der dem vor drei Wochen zu Marine Le Pen übergelaufenen Parteichef Eric Ciotti gefolgt ist. Die restliche Partei der Republikaner, die weiter Distanz zu den Rechtsextremen wahrt, kann laut Umfragen mit 8 Prozent der Wählerstimmen rechnen und bildet damit weit abgeschlagen die viertstärkste Kraft in der innenpolitischen Arena.

Die zweite, die mit 29 Prozent den Rechtsextremen relativ nahe kommt, ist die Neue Volksfront, zu der neben der von Jean-Luc Mélenchon gegründeten Bewegung La France insoumise, den Sozialisten, den Grünen und den Kommunisten weitere Organisationen und Parteien gehören, darunter erstmals auch die trotzkistische Neue Antikapitalistische Partei. Erst auf dem dritten Platz hinter den Rechtsextremen und der Neuen Volksfront kommt das Regierungslager, das den Umfragen zufolge mit 19,5 Prozent der Wählerstimmen rechnen kann. Zu diesem dritten Pool gehören neben Emmanuel Macrons Partei Renaissance auch François Bayrous Zentrumspartei Modem und die von Ex-Premier Edouard Philippe gegründete rechtsliberale Partei Horizons.

Die Umfragen haben auch Positives zu bieten, denn die Wahlbeteiligung soll diesmal zwischen 61 und 65 Prozent liegen, während es bei der Parlamentswahl 2022 nur 47,5 Prozent waren. Offensichtlich haben mehr Franzosen verstanden, was diesmal auf dem Spiel steht.

In den 577 Wahlkreisen sind längst nicht alle Parteien überall mit eigenen Kandidaten vertreten. Manche haben nicht genug geeignete Anwärter oder sie werten die Erfolgsaussichten als zu gering. Das Regierungslager hat in rund 50 Wahlkreisen niemanden aufgestellt, weil man von dem vor Ort aussichtsreichsten Kandidaten, der meist auch schon bisher dort Abgeordneter war, weiß, daß er für Kooperation offen ist. Das kann hilfreich sein, wenn die Regierung, die nur über eine relative Mehrheit im Parlament verfügt, für die Annahme eines Gesetzes noch Stimmen sucht. Die Parteien der Neuen Volksfront haben die Wahlkreise untereinander aufgeteilt, wobei sich die Zahl nach dem Stimmenverhältnis bei der letzten Wahl richtet – 299 für La France insoumise, 175 für die Sozialisten, 92 für die Grünen und 50 für die Kommunisten. Der jeweilige Kandidat wird von allen gemeinsam unterstützt.

Im ersten Wahlgang am Sonntag treten in manchen Wahlkreise bis zu einem Dutzend Kandidaten an, aber meist sind es weniger als eine Handvoll. Für den zweiten Wahlgang am 7. Juli qualifizieren sich die beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen. Sollte jedoch einer auf Anhieb mehr als 50 Prozent bekommen, hat er den Parlamentssitz bereits gewonnen. Es kann gelegentlich auch einen dritten Kandidaten für den zweiten Wahlgang geben, wenn für ihn nach den zwei Bestplatzierten noch mehr als 12,5 Prozent der Stimmen abgegeben wurden.

Nach der Stichwahl am 7. Juli hat die Partei mit den meisten Stimmen das Recht, den Premierminister vorzuschlagen. Der wird dann üblicherweise vom Präsidenten mit der Regierungsbildung beauftragt. Der RN-Parteichef Jordan Bardella hat bereits erklärt, daß er die Ernennung nicht annimmt, wenn seine Bewegung nicht über die absolute Mehrheit im Parlament verfügt. Wie problematisch es ist, nur mit einer relativen Mehrheit zu regieren, konnte man ja bei Macron in seiner zweiten Amtszeit ab 2022 sehen. Seine Regierungen hatten nur eine relative Mehrheit, waren ständig der Gefahr eines Mißtrauensantrags ausgesetzt und konnten ihre Projekte oft nur mit Hilfe von Regierungsdekreten oder mit dem Ausnahmeparagraphen 49.3 durchsetzen.

Hinter der Ablehnung einer Regierung nur mit relativer Mehrheit steht sicher auch das Kalkül der Rechtsextremen, daß der Präsident zurücktreten muß, wenn das Land dieserart unregierbar wird, und daß dann Marine Le Pen bei der Präsidentschaftswahl und die Partei mit dem designierten Regierungschef Jordan Bardella beste Chancen hat.

Auf die Frage nach den wichtigsten Beweggründen, zur Wahl zu gehen, nannten 54 Prozent der Wähler die dramatisch sinkende Kaufkraft, bei 40 Prozent ist es die Besorgnis über die vielen Einwanderer, bei 26 Prozent ist es das Gefühl von Unsicherheit angesichts der steigenden Kriminalität und bei jeweils 23-24 Prozent sind es die Sorge um Frankreichs Platz in »Europa« und der Welt, um den Zustand des Gesundheitswesen und um die stetig wachsenden sozialen Ungerechtigkeiten.

Auf die Frage an »bekennende« RN-Wähler, warum sie sich für die Rechtsextremen entscheiden, gaben 56 Prozent an, daß sie von den Werten und Ideen der Bewegung überzeugt sind, und 46 Prozent wollen den jugendlich-forschen und dabei dem sich bewußt bescheiden gebenden Parteichef Jordan Bardella unterstützen, während 42 Prozent einfach nur Macron und dem Regierungslager einen Denkzettel verpassen wollen.

Das linke Lager hat gegenüber der Wahl 2022 zugelegt, denn die Umfragen sagen diesmal 7 Prozent mehr Wählerstimmen voraus. Andererseits gibt es im Innern der Allianz mehr Zündstoff für Polemik denn je. Dafür sorgen schon die Gegner, das rechtsextreme Rassemblement national, bei dem das zu erwarten war, aber auch das Regierungslager, das RN und La France insoumise auf eine Stufe stellt und als »gleichermaßen gefährliche Extremisten« darstellt. Dabei hat sich Macron mit bisher kaum gekannter Vehemenz auf die Neue Volksfront eingeschossen. Die versucht er vor allem dadurch zu diffamieren, daß er fragwürdige Äußerungen einzelner Politiker von La France insoumise und deren Weigerung, die Hamas als »Terrororganisation« zu charakterisieren, der ganzen Neuen Volksfront und all ihren Partnern ankreidet und sie dadurch zu diskreditieren und zu spalten versucht. Dabei vergißt Macron geflissentlich, daß es beim zweiten Durchgang der Präsidentschaftswahlen 2017 und 2022 die Linkswähler waren, die die Entscheidung gegen Marine Le Pen und somit letztlich für ihn herbeigeführt haben.

Die Neue Volksfront hat aber auch hausgemachte Probleme. Beispielsweise sind auch heute noch rund ein Drittel der Politiker, Mitglieder und Anhänger der Sozialisten gegen die Beteiligung ihrer Partei an der Neuen Volksfront, vor allem weil dort die Bewegung La France insoumise und über diese Jean-Luc Mélenchon den Ton angeben. Doch Mélenchon ist selbst im eigenen Lager umstrittener denn je. So hat er verhindert, daß fünf bisherige Abgeordnete wieder kandidieren können, nachdem sie Mélenchons Führungsstil und den Mangel an innerparteilicher Demokratie kritisiert haben. Entsprechend wollen heute 78 Prozent der Mitglieder und Anhänger der Neuen Volksfront Mélenchon keinesfalls im Falle eines Wahlsieges als Regierungschef sehen, und auch nicht den selbsternannten Kandidaten François Hollande, der wegen seines Versagens als Präsident 2012-2017 von 62 Prozent abgelehnt wird.