Endlose Debatten über humanitäre Hilfe
Im UNO-Sicherheitsrat ringen die Parteien über grenzüberschreitende Hilfe nach Idlib
Die Debatte im UNO-Sicherheitsrat über die Verlängerung der grenzüberschreitenden Hilfe für den Norden der Provinz Idlib zog sich am Montag in die Länge. Die im Januar beschlossene sechsmonatige Verlängerung der Maßnahme (Resolution 2672) lief am 10. Juli aus. Einig war man sich, daß die Lieferungen fortgesetzt werden sollen, strittig war die Frage, für wie lang.
Die Abstimmung über zwei vorliegende Resolutionsentwürfe war für Montagmorgen (10 Uhr New York Ortszeit) vorgesehen, doch am späten Nachmittag war noch immer nicht abgestimmt worden. Nun wurde für Dienstag (Ortszeit) eine Abstimmung erwartet, die Autoren der verschiedenen Resolutionen verhandeln.
Grenzüberschreitende Hilfe für 6 oder
für 12 Monate
Während ein Resolutionsentwurf Rußlands eine Verlängerung für sechs Monate vorsieht und gleichzeitig die innersyrische Hilfe über die Frontlinien ausweiten will, wird in einem von der Schweiz und Brasilien vorgelegten Entwurf die Verlängerung der Maßnahme um ein Jahr gefordert. Das entspricht den Forderungen zahlreicher Hilfsorganisationen, die selbst oder mit syrischen Partnerorganisationen in Idlib Projekte haben. Auch der UNO-Generalsekretär António Guterres und sein Stellvertreter Martin Griffiths, der das UNO-Nothilfeprogramm (OCHA) leitet, forderten eine 12-monatige Verlängerung der Ausnahmeregelung. Griffiths forderte darüber hinaus, daß noch mehr Grenzübergänge geöffnet werden sollten.
Grenzüberschreitende Hilfe setzt die souveränen Rechte des betroffenen Staates – Syrien – außer Kraft und wird daher von Syrien abgelehnt. Die Maßnahme greift massiv in die staatliche Integrität und Souveränität und in die territoriale Integrität des Staates Syrien ein, daher muß der UNO-Sicherheitsrat darüber entscheiden.
Die grenzüberschreitende Hilfe, die aus der Türkei über den türkisch kontrollierten Grenzübergang Bab al Hawa nach Idlib gebracht wird, soll die rund 1,36 Millionen Inlandvertriebenen unterstützen, die zumeist entlang der Grenze zur Türkei in 1.154 Lagern untergebracht sind. Hinzu kommen rund 80.000 Personen, die bei dem Erdbeben Anfang Februar ihr Obdach verloren haben. Viele dieser Lager bestehen nicht mehr aus Zelten, sondern aus kleinen bungalowähnlichen Wohneinheiten oder Containern.
Die syrische Regierung in Damaskus lehnt die Maßnahme ab, weil die Hilfe die dort agierenden bewaffneten Gruppen stärkt, die weiterhin die Absicht und das Ziel haben, die Regierung in Damaskus zu stürzen. Geführt werden die bewaffneten Verbände von Hay’at Tahrir al-Sham (HTS, Organisation für die Befreiung der Levante), die aus der Al-Qaida-nahen Nusra-Front hervorgegangen ist. Für die Verwaltung des von ihr kontrollierten Gebietes im Nordwesten der Provinz Idlib bedient HTS sich einer »Errettungsregierung«, die de facto als Partner der internationalen Hilfstransporte fungiert.
Versuche des Syrischen Arabischen Roten Halbmonds (SARC), Konvois mit Hilfslieferungen über die innersyrischen Frontlinien nach Idlib zu bringen, waren nach dem Erdbeben gescheitert. Ein Konvoi, der Hilfsgüter der UNO, des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) und aus den arabischen Golfstaaten nach Idlib bringen sollte, mußte nach zehn Tagen umkehren. Die »Autoritäten im Nordwesten« (gemeint ist HTS in Idlib) erklärten, nur Hilfe aus der Türkei zu akzeptieren, nicht aus Damaskus.
Aktuell gibt es drei Grenzübergänge, über die Hilfe aus der Türkei in den Norden Syriens gebracht werden kann. Die Öffnung des Grenzübergangs Bab al Hawa nach Idlib wurde mit der Sicherheitsrats-Resolution 2672 am 9. Januar 2023 für sechs Monate verlängert. Die Öffnung der beiden Grenzübergänge Bab al Salam (nach Azaz) und Al Ra’ee (nach Al Bab) wurde von Syrien nach dem Erdbeben befristet freigegeben.
Geld für die Hilfe reicht nicht
UNO-Nothilfekoordinator Martin Griffiths hatte in der vergangenen Woche vor Journalisten über seinen jüngsten Besuch in Damaskus berichtet, wo er mit dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad und Außenminister Faisal Mekdad zusammengetroffen war. Er wies auf die schlechte Finanzierung der UNO-Hilfsprojekte hin. Von den benötigten 5,4 Milliarden US-Dollar seien bisher lediglich 12 Prozent überwiesen worden.
Griffiths sprach von einer »zutiefst schockierenden Situation«, die nicht nur in Syrien zu beobachten sei. Das Welternährungsprogramm habe ihm mitgeteilt, voraussichtlich 40 Prozent ihrer Essensrationen streichen zu müssen, weil ihnen 200 Millionen US-Dollar dafür fehlten. Ähnlich sehe es beim Jahresetat für UNRWA aus, dem Hilfswerk für die Palästinenser, der nur zu 18 Prozent bisher finanziert sei.
Unklar war am Dienstagnachmittag, wann der UNO-Sicherheitsrat den Tagesordnungspunkt der grenzüberschreitenden Hilfe nach Idlib aufrufen wird. Bei einer ähnlichen Debatte im Juni 2022 hatte Rußland gegen eine 12-monatige Verlängerung sein Veto eingelegt, einer sechsmonatigen Verlängerung aber zugestimmt. Rußland fordert für Syrien grundlegende Hilfe für den Wiederaufbau, der durch Sanktionen der Europäischen Union und der USA verhindert wird. Die humanitäre Lage gibt derweil nicht nur in Idlib, sondern in ganz Syrien Grund zur Sorge.