Ausland08. August 2024

Eine besondere Männerfreundschaft

Bundeskanzler Helmut Kohl und der Putsch in Moskau 1993

von Arnold Schölzel

Unter der Überschrift »Hilfe für den Saunafreund« fragt »Spiegel«-Redakteur Klaus Wiegrefe in der Ausgabe vom 27. Juli: »Unterstützte Kanzler Helmut Kohl den russischen Präsidenten Boris Jelzin 1993 beim Verfassungsbruch? Das legen Akten der Bundesregierung nahe«. Wiegrefe hat den Band der »Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1993« ausgewertet und beantwortet die Frage mit Ja.

Was bei ihm nicht steht: Nach der Auflösung der Sowjetunion ruinierte unter Präsident Boris Jelzin der USA-hörige und neoliberal besoffene Teil der Nomenklatura das Land. Hauptinstrumente waren der Ausverkauf an westeuropäische und US-amerikanische Monopole sowie an einheimische Nachwuchskader. Der wirtschaftliche und soziale Zusammenbruch war absehbar und trat 1997/1998 ein, der Zerfall der Föderation konnte in letzter Minute Ende des Jahrzehnts verhindert werden.

Widerstand bildete sich seit 1992 – die Inflation betrug etwa 2.500 Prozent – im russischen Parlament. Dessen Präsident, Ruslan Chasbulatow, besaß die Frechheit, im April 1993 nicht nur ein Referendum über die Wirtschaftspolitik der Jelzin-Truppe abzuhalten, sondern es auch noch zu gewinnen: Nicht so schnell in den Kapitalismus.

Dem mußte Einhalt geboten werden. Am 3. März 1993 machte, so Wiegrefe, Kohl auf dem Rückflug von einer Asienreise Station in Moskau und traf sich mit Jelzin. Der kündigte ihm laut den deutschen Aufzeichnungen einen Staatsstreich gegen das Parlament an, in dem angeblich »Neofaschisten« säßen. Vorbild solle das Vorgehen von Charles de Gaulle 1958 in Frankreich sein: Sondervollmachten, Aussetzung der Parlamentstagungen, neue Verfassung mit größeren Rechten für den Staatschef.

Jelzin wollte wissen, wie seine westlichen Sponsoren reagieren würden. Kohls Antwort: »Bei dieser Sache wolle er dem Präsidenten helfen.« Den westlichen Staats- und Regierungschefs werde er sagen: »Was wollt ihr? Boris Jelzin und seine Ziele kennen wir – das ist entscheidend. Oder wollt ihr die unterstützen, die von diesen Zielen wegwollen?« Die Antwort werde sicher »Nein« lauten, habe Kohl prognostiziert. Ein Rußland ohne zentrale Macht, aber mit billigen Rohstoffen und Arbeitskräften – ein deutscher imperialistischer Traum, der erst zwei Weltkriege veranlaßte.

Kohl wollte 1993 noch wissen: »Könne Jelzin auf den russischen Verteidigungsminister zählen, für die Armee verantwortlich, und den russischen Innenminister, für die Polizei zuständig. Jelzin bejahte.« Der Mann vom Rhein wußte, worauf es beim Umsturz ankommt: Auf Waffen, nicht auf lästige Wähler.

Jelzin konnte aber zunächst nicht liefern. Erst im Herbst 1993 löste er das Parlament auf, entmachtete das Verfassungsgericht und ließ eine neue Verfassung für seine Bedürfnisse ausarbeiten. Wiegrefe: »Kohl trommelte bei den G7-Staaten und in der EG, dem Vorläufer der EU, für finanzielle und politische Unterstützung: ›Wir setzen auf Jelzin.‹«

Einziges Problem: Das Parlament erklärte Jelzin für abgesetzt. Am 3. Oktober besetzten Chasbulatows Anhänger Fernsehzentrum und Rathaus. Am 4. Oktober ließ Jelzin daraufhin das Parlamentsgebäude, das »Weiße Haus«, von Panzern beschießen, offiziell gab es 187 Tote. Wiegrefe: »Der Westen machte Jelzins Gegenspieler im Parlament für die Eskalation verantwortlich.«

Das ist höflich ausgedrückt: Das Moskauer Blutbad von 1993 im Namen von Marktwirtschaft und Demokratie und mit deutscher Unterstützung wird faktisch verschwiegen. Letztlich war es kein eindeutiger Sieg Jelzins. 1994 zogen die USA die Konsequenz: Das Versprechen von 1990, die NATO nicht nach Osten auszudehnen, ist Geschwätz von gestern.

Putsch in Moskau plus NATO-Basen kurz vor der Stadt – ein Teil des Traums ist heute Wirklichkeit.