Die Ermordung von Jovenel Moïse
Haiti unter dem US-amerikanischen Stiefel
Seit dem Ausbruch der Unruhen in Kuba steht die Insel der Revolution im Rampenlicht. Was sich im benachbarten Haiti abspielt, ist fast unbemerkt geblieben. Forscht man den Umständen um den Präsidentenmord auf Haiti nach, stößt man auf das Who-is-who der üblichen Verdächtigen, die stets am Werk sind, wenn es um US-amerikanische Regime-Change-Aktionen in Lateinamerika geht.
Am 7. Juli drangen mehrere bewaffnete Männer in die Privatwohnung von Präsident Jovenel Moïse ein, töteten das haitianische Staatsoberhaupt und verletzten die Präsidentengattin schwer. Seither befindet sich das Land in einer schwierigen Situation zwischen einer unruhigen Machtnachfolge und dem Risiko einer ausländischen Militärintervention. Wir wollen versuchen, die Hintergründe des Anschlags zu rekonstruieren.
Moïse,
ein bequemer Diktator
Präsident Jovenel Moïse war ein Diktator im wörtlichen Sinne des Wortes. Als seine Amtszeit im Februar dieses Jahres ablief, weigerte sich Moïse, sein Amt aufzugeben, und regierte weiterhin auf verfassungswidrige Weise. Doch mehrere Maßnahmen, die er in den vergangenen Jahren durchgeführt hatte, waren bereits verfassungswidrig, ebenso wie das von ihm geplante Referendum, das alles in der Absicht durchgeführt wurde, sich weitere Befugnisse zu verschaffen. Auch zahlreiche Ernennungen waren rechtswidrig, wie die des Premierministers Joseph (der kürzlich durch Henry ersetzt wurde).
Aus diesem Grund kam es im Februar zu heftigen Protesten. Aber in Wirklichkeit gab es seit 2018 Massenproteste, als unter anderem die ungeheuerliche Korruption der derzeitigen Regierung ans Licht gekommen war. Vier Milliarden Dollar in Form von Ölsubventionen, die von Venezuela im Rahmen von Petrocaribe bereitgestellt wurden, waren in den privaten Taschen der herrschenden Klasse gelandet.
Die Regierung Moïse hatte von Anfang an ein Legitimationsdefizit. Die Wahlen von 2015, die er durch Fälschungen gewonnen hatte, wurden für ungültig erklärt. Im folgenden Jahr gewann er erneut, aber die Wahlbeteiligung lag bei 23 Prozent. Natürlich waren die Wahlen eine reine Formalität, da Moïse vom ehemaligen Präsidenten und ehemaligen Sänger Michel Martelly, bekannt als »Sweet Mickey«, zum »Thronfolger« bestimmt worden war.
Martelly war durch den Sieg bei den ebenfalls gefälschten Wahlen 2010/2011 Präsident geworden und war der Vertraute von Hillary Clinton, der damaligen Außenministerin der Obama-Regierung der USA. »Sweet Mickey« war auch mit der Duvalier-Diktatur (Vater und Sohn, bekannt als »Papa Doc« und »Baby Doc«) verbunden, die von den USA unterstützt wurde und 1986 nach einem Volksaufstand endete. Moïse war der würdige Erbe einer langen Tradition von USA-freundlichen Diktatoren, die Haiti zum ärmsten Land Amerikas machten.
Haiti, das »Lehensgut« der Clintons
Die starke Hand der Vereinigten Staaten im Leben Haitis zeigt sich nicht nur in den Figuren der verschiedenen Marionetten-Diktatoren, sondern auch in der direkten Einmischung in die Angelegenheiten des Landes. Es ist kein Zufall, daß der Name der Clintons auftaucht, da sie das Land seit mehreren Jahren «regieren». Hillary und Bill Clinton haben seit ihren Flitterwochen in Port-au-Prince eine besondere Beziehung zu Haiti. Im Jahr 2009 wurde Bill Clinton von der UNO zum »Sondergesandten« für Haiti ernannt. Hillary hingegen hat nicht nur »Sweet Mickey« zum Präsidenten gemacht, sondern war während ihrer Amtszeit als Außenministerin auch für einen gescheiterten Entwicklungsplan für das Land verantwortlich.
Das Experiment bestand aus Maßnahmen zur Förderung des Zuflusses von Auslandsinvestitionen. Mit anderen Worten, sie sollte die Ausbeutung des haitianischen Proletariats durch das ausländische Kapital fördern. Das wichtigste Ergebnis dieser Kampagne war nämlich die Abschaffung des Mindestlohns.
Im Jahr 2010, nach dem verheerenden Erdbeben, wurde Bill Clinton mit der Leitung des von den USA unterstützten Rettungsplans betraut. Auch dieses Management scheiterte, da es nutzlose und kosmetische Initiativen (wie Luxushotels) förderte und unmittelbare Bedürfnisse (wie die Beseitigung von Trümmern) völlig vernachlässigte. Die errichteten Behelfsunterkünfte waren zu heiß und mit giftigen und krebserregenden Materialien gebaut, während der Wiederaufbau von festen Wohngebäuden rein symbolische Ergebnisse erzielte. Darüber hinaus lösten sich erhebliche Mittel, die ihm zur Verfügung gestellt wurden, in Luft auf. Kurz gesagt, die Clintons haben Haiti ärmer hinterlassen, als sie es vorgefunden hatten.
Dies ist nur ein Beispiel unter vielen der jüngsten Geschichte, das zeigt, wie der USA-Imperialismus Haiti in einem ständigen Zustand des Elends hält.
Wer hat den Präsidenten beseitigt?
Am 7. Juli um ein Uhr nachts tötete ein bewaffnetes Kommando Jovenel Moïse, nachdem es in seine Privatvilla eingebrochen war. Die Identität der Angreifer war zunächst ein Rätsel, aber in den folgenden Tagen nahm die haitianische Polizei eine Reihe von Personen fest (und tötete sieben Verdächtige), die Licht in die Situation brachten. Das Team, das den Anschlag auf die Residenz des Präsidenten verübte, bestand aus fünf Personen, doch die Gruppe, die den Anschlag organisiert hatte, zählte mindestens dreißig. Nach Angaben der haitianischen Behörden bestand das Team zum größten Teil aus kolumbianischen Söldnern, aber auch aus Staatsbürgern der USA sowie aus Informanten des FBI und der DEA (Drogenbekämpfungsbehörde der USA). Das FBI und die DEA haben die Anwesenheit ihrer Agenten in dem Team, das den Anschlag organisierte, nicht bestritten, behaupten aber, daß sie nichts von den Plänen zur Ermordung von Moïse wußten.
Nach den Geständnissen der Verhafteten stand die Gruppe von Bombenlegern unter dem Befehl von CTU Security, einer privaten Sicherheitsfirma mit Sitz in Florida. Laut vorliegenden Geständnissen der Söldner wurde die Operation seit November 2020 in der Zentrale des Unternehmens in einem Vorort von Miami geplant.
CTU Security gehört dem Venezolaner Antonino Intriago, bekannt als »Tony«, der sowohl dem kolumbianischen Präsidenten Ivan Duque als auch dem selbsternannten Präsidenten Juan Guaidó in Venezuela nahe steht. Nach Angaben der Regierung in Caracas hatten Intriago und CTU Security bereits im August 2018 einen Anschlag auf Präsident Nicolás Maduro organisiert, der glücklicherweise vereitelt wurde.
»Operation Gideon«
Im Jahr 2019 jedoch, als sich Guaidós Putschversuch in Venezuela entwickelt, befindet sich Intriago in Kolumbien, nahe der venezolanischen Grenze. Dort beteiligt sich Intriago an der Planung des gescheiterten Grenzschutzes sowie an der Organisation von »Venezuela Aid Live«, einem Benefizkonzert zugunsten der Opposition. Die letztgenannte Veranstaltung, über die in der westlichen Presse viel berichtet wurde, ging in die Geschichte ein, weil sie sowohl öffentlich scheiterte als auch weil Guaidós Entourage dabei riesige Summen veruntreut hatte.
»Tony« bot später die Dienste der CTU Security für die »Operation Gideon« (Operación Gedeón) an, wurde aber dem privaten Militärunternehmen Silvercorp vorgezogen, das Jordan Goudreau gehört, der mit Donald Trump in Verbindung steht. Die »Operation Gideon« begann am 3. Mai 2020 und umfaßte die Einschleusung von 60 Söldnern nach Venezuela mit dem Ziel, einen regierungsfeindlichen Aufstand zu provozieren und Juan Guaidó als Präsidenten einzusetzen. Nach der Infiltration der ersten Gruppe sollten weitere Söldner folgen. Der Putschversuch wurde jedoch im Keim erstickt: acht Söldner wurden getötet und 114 gefangen genommen.
Zu den Mitarbeitern von Intriago gehört Antonio Esquivel, eine führende Persönlichkeit der antirevolutionären kubanischen Emigration und Leiter zahlreicher von den USA geförderter subversiver Organisationen. In Kuba wird nach Esquivel wegen Terrorismus gefahndet, und es ist daher nicht verwunderlich, daß er auch zu den Organisatoren des Anschlags auf Moïse gehört.
Der Bekanntenkreis von »Tony« Intriago ist die perfekte Beschreibung dafür, wie die USA in dem Gebiet agieren, das sie als ihren »Hinterhof« betrachten. Der kolumbianische Präsident Ivan Duque, ein Loyalist Washingtons, liefert Söldner für subversive Operationen wie die eben beschriebenen. Er hat auch eine wichtige Rolle bei mehreren gescheiterten Putschen gegen das bolivarische Venezuela gespielt. Außerdem ist er seit Monaten für die brutale Unterdrückung von Antiregierungsprotesten in Kolumbien verantwortlich, und die westlichen Medien täten gut daran, die Aufmerksamkeit, die sie für Kuba verschwenden, darauf zu verwenden.
Juan Guaidó, der Berg, der die Maus geboren hat, wurde von denselben Medien als »Verfechter der Demokratie« bezeichnet, aber seine Verbindung zu paramilitärischen Organisationen in den USA sollte ein für alle Mal klar machen, daß er nur ein verachtenswerter Renegat ist. Schließlich verschmäht Antonio Esquivel, eine führende Figur der reaktionären kubanischen Emigration, nicht die Möglichkeit, in anderen Ländern der Region schmutzige Arbeit zu leisten. Kurzum, wir haben es mit einer Bande von Spezialisten für Regimewechsel zu tun, die alle auf die eine oder andere Weise im Dienste des USA-Imperialismus stehen.
Was erwartet Haiti?
Natürlich hat Washington seine Beteiligung an der Ermordung von Jovenel Moïse geleugnet, genauso wie es seine Beteiligung an der »Operation Gideon« und vielen anderen derartigen Unternehmungen geleugnet hat. Aber es ist absolut lächerlich zu glauben, daß diese privaten Militärfirmen ohne das Wissen der Geheimdienste der USA handeln, so wie es lächerlich ist zu glauben, daß die FBI- und DEA-Informanten unter den Bombenlegern nicht wußten, was ihre Kumpane vorhatten.
Es bleibt unklar, wer genau hinter den Anschlägen steckt: Die USA-Regierung oder nur ein Teil des Establishments. Auch das Motiv für die Aktion ist unklar. Moïse war eine ausdrücklich pro-US-amerikanische (wenn auch »Trumpsche«) Figur, und was die Tatsache betrifft, daß er ein Diktator war, so zeigt die Geschichte Haitis, daß dies nie ein Problem für Uncle Sam war. Was die USA von der Liquidierung von Moïse zu gewinnen haben, wird sich erst in den kommenden Monaten zeigen.
Es ist möglich, daß die Regierungskrise nach der Ermordung den Weg für ein militärisches Eingreifen der USA ebnen sollte. Dies wurde offiziell von dem ehemaligen Premierminister Joseph beantragt, der das Land in den Tagen nach dem Anschlag regierte. Obwohl USA-Präsident Biden verkündet hat, daß eine militärische Intervention nicht geplant ist, kann sie noch nicht ausgeschlossen werden, nicht zuletzt, weil die Situation in ständigem Wandel begriffen ist.
Sicher ist, daß die Beseitigung von Moïse nicht nach Plan verlief, da die meisten der Verantwortlichen gefaßt oder getötet wurden. Die Geständnisse der Verhafteten haben den Ursprung der Operation aus den USA offensichtlich gemacht; es könnte also sein, daß Washington es deshalb vorgezogen hat, sich zurückzuhalten und so zu tun, als sei nichts geschehen.
Es wurde auch über den möglichen Einsatz von UNO-Blauhelmen gesprochen. Die letzte derartige Intervention in Haiti endete 2017 nach dreizehn Jahren und zahllosen Menschenrechtsverletzungen durch eingesetzte brasilianische Truppen.
Am 20. Juli trat der neue Premierminister Ariel Henry, der vom verstorbenen Präsidenten als Nachfolger Josephs ernannt worden war, sein Amt an. Als eine seiner Prioritäten nannte Henry die »Wiederherstellung von Ordnung und Stabilität«, um das Land zu den Wahlen zu führen. Offensichtlich »glaubwürdig und transparent«. Der Weg, der vor Haiti liegt, ist steil.
Und während Haiti versucht, sich aus einer fremdbestimmten Krise zu befreien, schüttet die westliche Presse weiterhin Ströme von Tinte über die kubanischen Proteste, die angeblich ein Symptom für eine allgemeine Sehnsucht nach Freiheit sind. In Wirklichkeit brauchen die Kubaner nur einen Blick auf die andere Seite der Windward-Passage zu werfen, die Kuba von Hispaniola trennt, um zu verstehen, was das Wort »Freiheit« in seiner westlichen Auslegung bedeutet.
(aus dem Schweizer
Online-Portal »sinistra.ch«