Ausland29. Juni 2022

NATO global

Westliches Kriegsbündnis will trotz Aufrüstung in Europa Beziehungen in Asien-Pazifik-Region stärken – für den Machtkampf gegen China

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Trotz erheblicher Anstrengungen bei der Stationierung neuer Truppen in Ost- und Südosteuropa will die NATO enger mit vier Staaten in der Asien-Pazifik-Region kooperieren. Das hat ihr Generalsekretär Jens Stoltenberg am Montag bestätigt. Demnach wird der westliche Militärpakt in nächster Zeit nicht nur Kampfbrigaden im Baltikum etablieren, sondern auch die Zahl der Truppen, die in erhöhter Bereitschaft sein sollen, auf 300.000 Soldaten erhöhen. Am NATO-Gipfel, der heute in Madrid beginnt, werden dennoch erstmals die Staats- und Regierungschefs der vier NATO-Kooperationspartner aus der Asien-Pazifik-Region anwesend sein. Es geht diesmal nicht – wie in den vergangenen Jahrzehnten – darum, deren Streitkräfte für NATO-Einsätze in aller Welt zu nutzen, beispielsweise in Afghanistan; im Mittelpunkt steht das gemeinsame Vorgehen gegen China. Damit nimmt die globale Ausdehnung der NATO, die im Kern bereits seit den 90er Jahren vorangetrieben wird, neue Form an. Diese ist dabei gegenüber ehrgeizigen Plänen, die Strategen vor gut 15 Jahren auf dem Höhepunkt westlicher Macht schmiedeten, erkennbar abgespeckt.

Neue Bündnisstrukturen

Die NATO hat schon in den 90er Jahren begonnen, systematisch mit Staaten jenseits des traditionellen transatlantischen Bündnisgebietes zu kooperieren. Im Jahr 1994 begründete sie zunächst das Programm »Partnership for Peace« (PfP), das den Aufbau und die Pflege von Beziehungen nicht nur zu den neutralen Staaten Europas und den Ländern Osteuropas ermöglichte, sondern auch zu den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. 1994 folgte darüber hinaus die Gründung des »Mediterranean Dialogue«, in dem die NATO seither mit Marokko, Algerien, Tunesien, Mauretanien, Ägypten, Jordanien und Israel zusammenarbeitet. Im Jahr 2004 schuf sie schließlich die »Istanbul Cooperation Initiative«, in der sie mit Kuwait, Bahrain, Katar sowie den Vereinigten Arabischen Emiraten kooperiert.

Mit dem »Mediterranean Dialogue« und der »Istanbul Cooperation Initiative« verfolgte der Militärpakt auch das Ziel, in strategisch bedeutenden Weltregionen ihm möglichst nahestehende Strukturen zu schaffen, um seine Kontrolle über das jeweilige Gebiet zu intensivieren. Dazu wurden zum Beispiel gemeinsame Manöver durchgeführt und Schritte gestartet, um die »Interoperabilität« zwischen den regionalen Streitkräften und NATO-Truppen zu verbessern.

»Out of Area«

Seit den 2000er Jahren greift die NATO auch mit Militäreinsätzen weit über ihr eigentliches Bündnisgebiet hinaus. Der Prozeß begann – jenseits der Operationen im ehemaligen Jugoslawien, die auch außerhalb des Bündnisgebiets stattfanden – in größerem Umfang 2003, als die NATO offiziell das Kommando über die westliche Kriegsführung in Afghanistan übernahm. Es folgten zunächst Ausbildungsmaßnahmen im Irak und Unterstützungsleistungen für Truppen der Afrikanischen Union bei deren Einsatz in Darfur, Hilfseinsätze nach dem Tsunami Ende 2004 in Indonesien oder nach dem Erdbeben im Herbst 2005 in Pakistan.

2011 kam der Libyen-Krieg hinzu. Dabei ließ sich die NATO von vielen Staaten mit Truppen unterstützen, mit denen sie im Rahmen der PfP, des »Mediterranean Dialogue« oder der »Istanbul Cooperation Initiative« kooperiert. Hinzu kamen Staaten wie Australien, die zum Teil bedeutende Truppenkontingente stellten – so zum Beispiel in Afghanistan –, die aber keinem festen NATO-Kooperationsformat angehörten. Die Reichweite ihrer Einsätze und der formellen wie auch informellen NATO-»Partnerschaften« ließ bereits im Herbst 2006 Ivo Daalder und James Goldgeier, Autoren der US-amerikanischen Zeitschrift »Foreign Affairs« konstatieren, faktisch sei die NATO »global geworden«.

»Eine wahrhaft globale Allianz«

Einflußreiche Stimmen plädierten deshalb dafür, die NATO auch formell weiter auszudehnen. 2006 warb ihr damaliger Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer explizit für »ein Bündnis mit globalen Partnern«. In »Foreign Affairs« hieß es, man müsse noch einen Schritt weitergehen und auch die NATO-Mitgliedschaft über die transatlantische Region hinaus erweitern: Man solle »jeden demokratischen Staat in der Welt« in den westlichen Militärpakt aufnehmen, »der gewillt und fähig ist, zur Erfüllung der neuen Verantwortlichkeiten der NATO beizutragen«. So könnten beispielsweise Australien und Neuseeland, Japan und Südkorea, aber auch Brasilien, Südafrika sowie Indien »zusätzliche militärische Kräfte oder logistische Unterstützung bereitstellen«.

»Nur eine wahrhaft globale Allianz kann die globalen Herausforderungen der Gegenwart annehmen«, hieß es weiter in »Foreign Affairs«. Der ausgreifende Vorstoß fand letztlich keine Mehrheit. Es begann aber – zunächst auf dem NATO-Gipfel 2006 in Riga, dann auf dem Gipfel 2008 in Bukarest – ein Prozeß, der Staaten in Asien, in der Pazifikregion und Lateinamerika als »partners across the globe« an die NATO band. Bislang handelt es sich um insgesamt neun Staaten: Australien, Neuseeland, Japan und Südkorea, daneben die Mongolei, die beispielsweise die NATO-Einsätze in Afghanistan aktiv unterstützt hat, und Kolumbien, das als wichtiger Bezugspunkt in Lateinamerika gilt. Schließlich, als Schauplätze ehemaliger und noch bestehender NATO-Einsätze, Afghanistan, Pakistan und Irak.

»Partners across the globe«

Eine gewisse Wende zeichnet sich seit 2014 ab. Einerseits fokussieren die NATO und insbesondere ihre europäischen Mitgliedstaaten seit der Eskalation des Ukraine-Konflikts immer stärker auf den Machtkampf gegen Moskau, rüsten vor allem in Ost- und Südosteuropa auf und rücken ihre Operationen z.B. im Nahen und Mittleren Osten, wo sie von militärischer Unterstützung durch ihre Kooperationspartner in der Region profitieren können, etwas in den Hintergrund. Daher verlieren ihre dortigen Kooperationsformate tendenziell an Bedeutung.

Andererseits gewinnt der Machtkampf gegen China immer mehr an Gewicht; die NATO intensiviert deswegen die Zusammenarbeit mit den vier asiatisch-pazifischen »partners across the globe«, zu denen mit Japan und Australien zwei der schärfsten Gegner der Volksrepublik gehören. Bereits im Dezember 2020 nahmen erstmals alle vier von ihnen an einem Treffen der Außenminister der NATO-Staaten teil; auf dem Madrider NATO-Gipfel werden erstmals ihre Staats- und Regierungschefs zugegen sein. Dies zeige, so heißt es in Brüssel, die verstärkte Aufmerksamkeit, die die Entwicklung in der Asien-Pazifik-Region auch beim transatlantischen Militärpakt genieße: Es geht demnach nicht darum, Truppen der asiatisch-pazifischen Kooperationspartner in Europa zu nutzen, sondern die eigenen Aktivitäten in die Region rings um China auszuweiten.

Risiko der Überdehnung

Unklar ist freilich, inwieweit die Pläne der NATO für Europa Kapazitäten für den Ausbau ihrer Beziehungen zu ihren Kooperationspartnern in der Asien-Pazifik-Region lassen. Generalsekretär Stoltenberg hat am Montag bestätigt, daß die NATO ihre Battle-Groups, die es schon jetzt im Baltikum unterhält, auf Brigadestärke aufstocken will. Zudem sollen weitaus mehr Truppen relativ kurzfristig einsetzbar sein; hieß es vergangene Woche, statt lediglich der NATO Response Force (NRF) mit ihren rund 40.000 Soldaten sollten in Zukunft 240.000 ständig in erhöhter Bereitschaft sein, so nannte Stoltenberg nun die Zahl von 300.000.

Hinzu kommt, daß erhebliche Mengen an Kriegsgerät in Ost- und Südosteuropa eingelagert werden sollen; im Kriegsfall müssen dann nur noch die Truppen eingeflogen werden, was die Zeit bis zum Einsatz an der Ostfront stark reduziert. Allerdings verlangt die Umsetzung all dieser Pläne große Kraftanstrengungen. Beobachter warnen mit Blick auf die ehrgeizigen Pläne für eine »Global NATO« bereits vor einer strategischen Überdehnung, die den Westen eher schwächen als stärken kann.