Die Ukraine, die EU und der Sankt-Nimmerleins-Tag
Soll die Ukraine spätestens 2030 EU-Mitglied sein? Mit dieser Forderung, mit der kürzlich EU-Ratspräsident Charles Michel vorgeprescht war, mußten sich am Freitag vergangener Woche die EU-Staats- und -Regierungschefs auf ihrem informellen Gipfeltreffen in Granada befassen. Und wie zu erwarten war, trat der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz dabei kräftig auf die Bremse. Aus Sicht der Herrschenden in seinem Land hatte er allen Anlaß dazu.
Einen der zwei maßgeblichen Gründe konnte man jüngst der »Financial Times« entnehmen. Irgendjemand hatte der Zeitung eine interne Analyse aus der Brüsseler Bürokratie gesteckt, in der die finanziellen Folgen eines ukrainischen EU-Beitritts bilanziert wurden. Das Ergebnis, berechnet auf der Grundlage aktueller Wirtschaftsdaten und geltender Verteilungsregeln: Kiew stünden aus dem üblichen Siebenjahreshaushalt der EU satte 186 Milliarden Euro zu.
Da das Geld irgendwo herkommen muß, hätten insbesondere die »wohlhabenderen« Staaten – Deutschland, Frankreich, die Niederlande – deutlich höhere Summen nach Brüssel zu überweisen. Zudem würde sich eine ganze Reihe bisheriger Nettoempfänger mit einem Schlag in Nettozahler verwandeln und die Union damit im Durchschnitt erheblich ärmer.
Der zweite zentrale Grund drängte sich auf, wenn man am Freitag den informellen EU-Gipfel in Granada beobachtete. Hauptthema neben der EU-Erweiterung war einmal mehr die Flüchtlingsabwehr der EU. Eigentlich hatte man mit viel Hängen und noch mehr Würgen den gewünschten Konsens erreicht; lediglich Polen und Ungarn mußten überstimmt werden. Viktor Orbán ist allerdings nicht bereit, das hinzunehmen, und stellt sich mit ganzer Kraft quer. Was, wenn nun auch noch die Ukraine in Brüssel mitbestimmen dürfte, deren politisches Personal heute nur den Forderungsmodus beherrscht, den jedoch perfekt? Ob die EU dann noch handlungsfähig wäre, wäre zumindest ungewiß.
Ein EU-Beitritt der Ukraine beträfe damit auf doppelte Weise die Geschäftsgrundlage, auf der die Union das zentrale Projekt von Deutschlands herrschender Klasse geworden und bis heute geblieben ist. Das ist der Grund, weshalb bislang die Absicht vorherrschte, die Ukraine zwar unbedingt in die EU aufzunehmen, dies aber erst am Sankt-Nimmerleins-Tag zu tun.
Sollte sich ihr Beitritt nun aufgrund der äußeren Umstände wirklich nicht vermeiden lassen, dann müßte aus Sicht Berlins penibel gerechnet werden, und es müßte vermutlich eine neue Geschäftsgrundlage her. Punkt eins: Widerspenstige Mitglieder müssen überstimmt werden können, damit die EU-Führung im Sinne deutscher Interessen handlungsfähig bleibt.
Punkt zwei: Die Summen, die an ärmere Mitgliedstaaten umverteilt werden, müssen gekürzt werden, damit sich die EU auch für Deutschland noch lohnt. Die EU, so formulierte Kanzler Scholz in Granada, wird »zukunftsfähig« werden müssen. Daß dem zerstrittenen Klub das bis 2030 gelingt, darf man bezweifeln.