Ausland18. Juni 2024

Volksfront nimmt Programm an und stimmt Kandidatenlisten ab

Frankreich: Republikaner spalten sich und ein Teil geht zu Marine Le Pen

von Ralf Klingsieck, Paris

Vor der akuten Gefahr einer Regierungsübernahme durch das Rassemblement national (RN) warnten am Wochenende in Paris und anderen französischen Städten 192 Manifestationen, an denen nach Angaben der Gewerkschaft CGT zusammen 640.000 Menschen teilnahmen. Die Wähler wurden aufgerufen, dem rechtsradikalen Bündnis bei der Parlamentswahl Ende Juni und Anfang Juli den Weg zu verlegen.

Am Freitag hatten die führenden Persönlichkeiten der linken Parteien, die sich zu einer Allianz mit dem an die Geschichte der französischen Arbeiterbewegung erinnernden Namen Neue Volksfront zusammengeschlossen haben, auf einer Pressekonferenz in Paris ihr Programm vorgestellt. An der Spitze seiner 150 Punkte steht die Ankündigung, daß die Volksfrontregierung im Falle eines linken Wahlsieges innerhalb der ersten 14 Tage die »Rentenreform«, die »Reform« der Arbeitslosenversicherung und das Ausländergesetz rückgängig machen wird, die im vergangenen und im laufenden Jahr trotz der massiven Proteste der Bevölkerung mit Hilfe des Ausnahmeparagraphen 49.3 durchs Parlament gebracht oder einfach per Regierungsdekret in Kraft gesetzt worden waren.

In diesem Zusammenhang ist es wie eine Provokation zu werten, daß Premier Gabriel Attal ungeachtet der gebotenen Zurückhaltung nur Tage vor der Wahl fest entschlossen ist, die Arbeitslosenreform noch wie geplant am 1. Juli per Regierungsdekret in Kraft zu setzen.

Um dem Kaufkraftverlust unter der breiten Masse der Franzosen zu begegnen, plant die Neue Volksfront, als erste Maßnahmen die Preise für Grundnahrungsmittel, die Energietarife und die Treibstoffpreise einzufrieren. Ferner wird die für den 1. Juli anstehende Gaspreiserhöhung rückgängig gemacht. Löhne und Renten sollen indexiert, also an die Inflationsrate gekoppelt, der gesetzliche Mindestlohn auf 1.600 Euro netto angehoben und die Bemessungsgrundlage für die Gehälter der Staatsbediensteten um zehn Prozent erhöht werden.

Um mehr Steuergerechtigkeit herzustellen, wird die von Präsident Emmanuel Macron gleich nach seiner Amtseinführung 2017 abgeschaffte Reichensteuer ISF wieder eingeführt und dafür die »Flat taxe« abgeschafft, die die Steuern auf Kapitalerträge auf ein Minimum drückt. Den Öffentlichen Dienst und vor allem das Gesundheitswesen will die Neue Volksfront durch Bereitstellung entsprechender Mittel im Interesse aller Franzosen »deutlich verbessern«. In diesem Sinne soll auch die Schule tatsächlich und nicht nur auf dem Papier kostenlos werden, indem Schulspeisung, Sport-, Kultur- und Freizeitaktivitäten und der Schulbus für alle Kinder frei sind und Bücher sowie Lehrmaterial durch die Schulen gestellt werden.

Die durch das jüngste Ausländergesetz eingeleitete Verschärfung des Asylantragsverfahrens für Einwanderer soll rückgängig gemacht und Antragsteller sollen Wohnraum bekommen, sozial betreut werden und arbeiten dürfen. Außerdem wird eine neue Kategorie von Asyl für »Klimawandelflüchtlinge« eingeführt.

Der Ukraine sichert die Volksfront zu, sie »zuverlässig und bedingungslos zu verteidigen und zu unterstützen«, doch will die Allianz keinen Einsatz französischer Soldaten auf ukrainischem Boden. Zum Nahostkonflikt verurteilt der Text die »Terrorakte der Hamas«. Darauf hatten die Sozialisten, die Grünen und die Kommunisten bestanden und die Bewegung La France insoumise mußte nachgeben, doch auf ihren Druck hin wurde die Hamas nicht pauschal als »Terrororganisation« bezeichnet. Vorbehaltlos einig war man sich dann wieder bei der Forderung nach Freilassung der Geiseln, einem Waffenstillstand für den Gazastreifen und der Anerkennung Palästinas als unabhängigen Staat.

Bis Sonntag 18 Uhr mußten alle Parteien ihre Kandidatenlisten in den Präfekturen registrieren lassen. Die Neue Volksfront stellt Kandidaten für alle 577 Wahlkreise des Landes auf, aber immer nur einen pro Kreis, der von allen Parteien und Bewegungen gemeinsam unterstützt wird. So sollen die Chancen der Linken optimiert und nicht durch einen Konkurrenzkampf verschiedener Kandidaten verspielt werden. In den Verhandlungen darüber hat man sich geeinigt, daß die Bewegung La France insoumise in 229 Kreisen den Kandidaten stellt, die Sozialisten in 175, die Grünen in 92 und die Kommunisten in 50 Kreisen.

Bei La France insoumise gab es Auseinandersetzungen, weil die Führung fünf bisherige Parlamentarier nicht wieder für ihren Wahlkreis aufgestellt hat. Die Betroffenen werten das als Strafe dafür, daß sie wiederholt öffentlich den anmaßenden und selbstherrlichen Führungsstil des LFI-Gründers Jean-Luc Mélenchon und den Mangel an innerparteilicher Demokratie kritisiert haben. Sie werden trotz der Maßregelung durch die Führung in ihren bisherigen Wahlkreisen kandidieren, wenn auch ohne das LFI-Logo auf den Plakaten.

Ärger gab es auch bei den Sozialisten, deren Parteiführung aus den Medien erfuhr, daß der ehemalige Präsident François Hollande in seinem historischen Wahlkreis in der mittelfranzösischen Corrèze kandidiert, den er schon zwischen 1997 und 2012 in der Nationalversammlung vertreten hat. Auf Fragen von Journalisten erklärte Hollande, daß er für die Neue Volksfront und die Sozialistische Partei antritt, doch deren Führung wußte gar nichts davon und hatte dort bereits einen anderen PS-Politiker als Kandidaten nominiert. Doch das konnte dann ohne größeres Aufsehen geklärt werden.

Daß die linken Parteien so schnell und relativ reibungsarm eine Allianz zustande gebracht haben, ist Insidern zufolge eine schwere Enttäuschung für den kleinen Kreis von Beratern, die seit Monaten mit Macron insgeheim am Szenario der Parlamentsauflösung und der Neuwahlen gearbeitet haben. Sie hatten wohl darauf gesetzt, daß durch diese von niemandem erwartete Entscheidung sowohl unter den linken wie unter den rechten Oppositionsparteien Chaos ausbricht und in den nur drei verbleibenden Wochen bis zur Wahl keine effiziente Wahlstrategie zustande kommt.

Die Neue Volksfront hat sie da eines Besseren belehrt. Anders sieht es schon bei den rechtsoppositionellen Republikanern aus. Deren Parteichef Eric Ciotti, der schon immer ein Scharfmacher war und in dieser rechtsbürgerlichen Partei den rechten Flügel repräsentierte, ist Anfang vergangener Woche auf das Angebot des rechtsextremen RN für eine Zusammenarbeit eingegangen. In Verhandlungen mit Marine Le Pen und Parteichef Jordan Bardella hat er für 62 interessierte Parlamentarier seiner Partei die Zusage dafür erhalten, daß das RN in deren Wahlkreisen keine eigenen Kandidaten aufstellt, sondern sie unterstützt.

Als dies bekannt wurde, haben fast alle namhaften Politiker der Partei der Republikaner gegen diese »widernatürliche Allianz« protestiert. Während sich Ciotti hinter verschlossenen Türen im Sitz der Partei verbarrikadiert hat, kam das LR-Politbüro, das Führungsgremium der Partei, in einem Nachbargebäude zusammen und hat Ciotti einstimmig als Vorsitzenden abgesetzt und aus der Partei ausgeschlossen. Dieser rief jedoch das Pariser Verwaltungsgericht an und das hat in einer einstweiligen Verfügung die Amtsenthebung und den Ausschluß für statutenwidrig erklärt. Um nicht auf den Prozeß zur Sache warten zu müssen, wollen die Gegner der Allianz zu dieser Frage eine landesweite Mitgliederbefragung durchführen. Auf jeden Fall aber ist die Partei jetzt de facto schon gespalten, denn bei den Wahlen in zwei Wochen treten einerseits 400 Kandidaten der »historischen« Republikaner an und andererseits 63 LR-RN-Kandidaten.

Aber auch die »historischen« Republikaner, die eine Zusammenarbeit mit Le Pen ablehnen, können nicht über ihren Schatten springen. So haben prominente LR-Politiker auf die Frage von Journalisten, für wen sie denn stimmen werden, wenn es in ihrem Wahlkreis eine Stichwahl zwischen einem Kandidaten der rechtsextremen RN und einem Linken von der Neuen Volksfront gibt, geantwortet: »Selbstverständlich für RN.«

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Diesmal soll der Erfolg solider werden und länger halten

Frankreichs Linken dient die Volksfront von 1934 als Vorbild

Die Volksfront unter Léon Blum, die Frankreich 1936/37 regierte, dient den linken Parteien und Organisationen, die sich heute mit dem Namen ihrer Allianz auf sie beziehen, als historisches Vorbild. Allerdings soll ihr Bündnis nicht so kurzzeitig bleiben wie vor 90 Jahren.

Die Volksfront war eine Reaktion auf den Sturm auf das Parlament im Februar 1934. Es handelte sich um einen Staatsstreichversuch der royalistisch-reaktionären, rechtsradikalen und faschistischen Kräfte, die von einem gewalttätigen Umschwung nach dem Vorbild der Machtübernahme Hitlers träumten. Dies wurde durch Massendemonstrationen der Linken und Generalstreiks der Gewerkschaften knapp vereitelt. Hier konnten Sozialisten und Kommunisten, die bis dahin tief zerstritten waren, erstmals zusammenarbeiten. Mit der gemeinsamen Organisation von Massendemonstrationen unter der Losung »Für Brot, Frieden und Freiheit« entstanden eine Sammlungsbewegung und ein Wahlbündnis, das bei den Parlamentswahlen 1936 die Mehrheit errang.

Die daraus hervorgegangene Volksfrontregierung unter dem sozialistischen Regierungschef Léon Blum wurde durch die Sozialisten und die Liberalen mit dem historischen Namen »Radikale« getragen und durch die Kommunisten unterstützt. Angesichts der Kampfentschlossenheit der Linken, von der mehrere Generalstreiks zeugten, bei denen die Enteignung von großen Konzernen gefordert wurde, zeigten sich die Patronatsverbände zu Zugeständnissen bereit. So konnte die Volksfrontregierung viele soziale Verbesserungen durchsetzen. Die 40-Stunden-Arbeitswoche wurde gesetzlich verankert, eine allgemeine Lohnerhöhung um zwölf Prozent verfügt, ein gesetzlicher Mindestlohn und ein bezahlter Urlaub von zwei Wochen pro Jahr eingeführt. Einige Eisenbahn-, Luftfahrt- und Rüstungsunternehmen wurden verstaatlicht und auf die Wirtschaftskrise mit Massenarbeitslosigkeit wurde mit Beschäftigungsprogrammen reagierte. Doch während so die sozialen Krisen entschärft werden konnten, verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage des Landes immer mehr. Die politische Rechte und viele Unternehmer machten mit dem Slogan »Lieber Hitler als die Volksfront« gegen das Regierungsbündnis mobil. Daran scheiterte letztlich die Volksfrontregierung Blum, die im Juni 1937 zurücktrat.

Wenige Jahre später, in der Zeit der faschistischen Besetzung, organisierte das Vichy-Regime unter Marschall Pétain einen Schauprozeß, in dem die Volksfront für die Schwächung Frankreichs und die militärische Niederlage von 1940 verantwortlich gemacht wurde. Léon Blum wurde ins KZ Buchenwald deportiert, aber er überlebte und spielte in den ersten französischen Nachkriegsregierungen wieder eine wichtige Rolle. In denen stellten neben den Sozialisten und den linksliberalen »Radikalen« auch die Kommunisten einige Minister – bis der aufkommende Kalte Krieg dem ein Ende setzte.