Immer mehr Franzosen sind von akuter Wohnungsnot betroffen
Gesetzentwurf droht zahlungsunfähigen Mietern mit Gefängnis
Die Wohnungsnot-Krise ist in Frankreich keine vorübergehende Erscheinung, sondern dauerhaft und tief verwurzelt, stellt die Stiftung Abbé-Pierre in ihrem jüngsten Jahresbericht fest. »Noch nie war die Kluft so groß zwischen den praktischen Erscheinungen der Wohnungsnot auf der einen Seite und den Antworten, die der Staat, die Behörden und die Kommunen darauf haben.«
Es fehle an durchgreifenden Maßnahmen, um Wohnraum auch für Menschen mit niedrigem Einkommen erschwinglich zu machen. Das gelte für den existierenden Wohnungsbestand und mehr noch für die viel zu wenigen Neubauten, die immer teurer werden und daher nur noch für wenige Familien in Frage kommen. Eine Verbesserung der Wohnbedingungen hänge vor allem davon ab, ob endlich mehr Sozialwohnungen gebaut werden und eine entschlossene Politik der Mietpreisbindung verfolgt wird, stellte der Generaldelegierte der Fondation Abbé-Pierre, Christophe Robert, fest.
Die Hauptfaktoren der Krise seien sowohl der Mangel an Neubau- und Sozialwohnungen als auch der »unerträgliche« Anstieg der Preise für alte Immobilien. Hinzu komme die Überbelegung vieler existierender Wohnungen, weil erwachsene Kinder nicht die Miete für eine eigene Wohnung aufbringen können und daher bei ihren Eltern wohnen bleiben müssen.
Im Budget der Haushalte, die bereits stark durch die Inflation der Lebenshaltungskosten und der Energiepreise belastet sind, nehmen die Wohnkosten einen immer größeren Platz ein. Im Jahr 2021 machten sie 28 Prozent der Gesamtausgaben aus, gegenüber 20 Prozent im Jahr 1990.
Insgesamt leben nach Schätzungen der Stiftung 4,15 Millionen Franzosen unter schlechten Wohnbedingungen. Die Zahl der Obdachlosen liegt nach offiziellen Angaben bei 330.000, sie hat sich damit in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt. Die spartanischen »Sozialhotels« oder andere Notunterkünfte von Kommunen und Hilfsvereinen reichen längst nicht aus, so daß jeder zehnte Obdachlose im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße liegt.
Besonders intensiv beschäftigt sich der diesjährige Bericht der Stiftung mit den Wohnbedingungen von Frauen. »Sie sind überdurchschnittlich stark von der Wohnungskrise betroffen, weil sie über weniger Ressourcen verfügen und häufiger allein leben, insbesondere wenn sie älter sind, oder Kinder haben«, erklärte der Studiendirektor der Stiftung, Manuel Domergue. Während im Schnitt 20 Prozent der Bevölkerung unter schlechten Wohnbedingungen leiden, betrage dieser Anteil bei alleinstehenden Frauen mit einem Kind 40 Prozent und steige auf 59 Prozent, wenn sie drei oder mehr Kinder haben.
»Vor zehn oder zwanzig Jahren wurden Mütter mit Kindern relativ schnell von der Straße geholt und wenigstens provisorisch irgendwo eingewiesen. Heute ist das viel komplizierter, weil es längst nicht genügend Plätze gibt«, stellte Manuel Domergue fest.
Von neuen oder frei werdenden Sozialwohnungen wird jede dritte an alleinstehende Mütter mit Kindern vergeben. Die können sich noch weniger als die Masse der Franzosen eine Mietwohnung im Privatsektor leisten oder werden dort wegen ihrer prekären Situation von vornherein abgewiesen.
Als Emmanuel Macron 2017 für das Präsidentenamt kandidierte, versprach er als Maßnahme gegen die steil steigenden Mieten einen »Schock durch Angebot«, doch auf den wartet man immer noch vergebens. Statt dessen gehe die Spekulation auf dem Wohnungsmarkt und vor allem die um Baugrundstücke weiter, stellt die Stiftung fest. Während mehr als zwei Millionen Familien – meist schon seit vielen Jahren – auf eine Sozialwohnung warten, wurden 2021 nur Baugenehmigungen für 95.000 Wohnungen erteilt, während es 2016 noch 123.000 waren. Dabei sieht seit 2000 das Gesetz über urbane Solidarität SRU vor, daß die 1.035 Städte und Gemeinden in Frankreich mit mehr als 3.500 Einwohnern verpflichtet sind, bei Baugenehmigungen so viele neue Sozialwohnungen vorzusehen, daß deren Anteil innerhalb der Kommune mindestens 20 Prozent beträgt.
Doch während in jahrzehntelang links regierten Pariser Vorstädten dieser Anteil oft 40 oder gar 60 Prozent beträgt, werden in 550 Kommunen die vorgeschriebenen 20 Prozent längst nicht erreicht. Oft verweisen die Bürgermeister darauf, daß es an geeigneten Baugrundstücken fehlt, doch nur zu oft ist das ein Vorwand, um vorhandenes Bauland Immobilienunternehmen zuzuschanzen, die darauf Luxuswohnungen bauen.
Die politischen Entscheidungsträger scheinen diesen Fragen momentan einen »geringen Stellenwert« einzuräumen, beklagen die Autoren des Berichts. Schlimmer noch: Ein Gesetzentwurf, der bereits vom Senat betätigt wurde und zweifellos auch die Nationalversammlung erfolgreich passieren dürfte, weil sich die Regierungspartei Renaissance, die den Vorschlag eingebracht hat, und die rechte Oppositionspartei der Republikaner einig sind, könnte die ohnehin schon dramatische Situation weiter verschlimmern.
Der Gesetzentwurf sieht eine Verschärfung der Vorschriften für das Vorgehen bei Hausbesetzungen vor und schwächt in diesem Zusammenhang auch den Schutz von Mietern mit ausstehenden Mietzahlungen. Wenn das Gesetz in Kraft tritt, können säumige Mieter, gegen die ein Räumungsverfahren läuft, nach zwei Monaten mit einer umgehend anzutretenden Gefängnisstrafe belegt werden. Wie der Präsident der Hilfsvereinigung Fédération des acteurs de la solidarité, Prascal Brice, in einer Protesterklärung in der Zeitung »Le Monde« betonte, »ist so etwas in Frankreich seit 1867 nicht mehr vorgekommen«.
Negativen Einfluß auf die Wohnungsmisere dürfte auch ein in guter Absicht verabschiedetes und Mitte 2021 in Kraft getretenes Gesetz haben, dem zufolge unzureichend isolierte Wohnungen der miserablen Qualitätskategorien G, F und E stufenweise ab 2025, 2028 und 2034 nicht mehr vermietet werden dürfen, sondern energiesparend nachzubessern sind. Da sich viele Besitzer solcher Wohnungen derartige Baumaßnahmen nicht leisten können, werden sie diese Wohnungen voraussichtlich zum Verkauf anbieten. Findet sich kein finanzkräftiger Interessent, bleibt die Wohnung leer stehen und das trägt zur weiteren Verschärfung der Wohnungsnot bei.