Wachsender Mangel an Wohnungen
Drei Millionen leerstehende Wohnungen und 800.000 Obdachlose in Frankreich
Zwölf der insgesamt 63 Millionen Einwohner Frankreichs müssen unter prekären oder schlechten Wohnbedingungen leben oder haben kein Dach über dem Kopf, mahnt die Stiftung Abbé Pierre. Sie ist nach dem Mönch benannt, der im extrem kalten Winter 1954 über Rundfunk und Fernsehen auf die Wohnungsnot und vor allem auf das Los der Obdachlosen aufmerksam gemacht und dieses bis dahin weitgehend verdrängte Thema so nachhaltig angesprochen hat, daß es bis heute nicht mehr als der öffentlichen Diskussion wegzudenken ist.
Von den insgesamt 38 Millionen Wohnungen sind 82 Prozent ständig bewohnt und 10 Prozent sind Wochenend- oder Ferienwohnungen. Die restlichen 8 Prozent, also mehr als drei Millionen Wohnungen, stehen leer, was angesichts der Lage auf dem Wohnungsmarkt schwer verständlich ist. Immerhin warten landesweit 2,4 Millionen Haushalte – oft schon seit Jahren – auf die Zuweisung einer Sozialwohnung.
Drei Millionen Familien müssen in Frankreich auf engstem Raum zusammengedrängt in Wohnungen leben, die in schlechtem Zustand und oft ohne zeitgemäße Hygieneeinrichtungen sind. Rund 800.000 Menschen sind obdachlos, wobei 643.000 keine eigene Wohnung haben und zeitweise bei Verwandten, Freunden oder in Aufnahmeheimen der Sozialdienste und Hilfsvereine untergekommen sind, während 143.000 auf der Straße leben.
Doch die Zahl der leer stehenden Wohnungen geht nicht zurück, sondern nimmt seit Jahren noch zu. Heute sind es 3,2 Millionen, während es vor 20 Jahren »nur« 1,6 Millionen waren, und ein Viertel von ihnen sind seit mehr als vier Jahren nicht mehr vermietet. Diese drei Millionen Wohnungen könnten allerdings nicht alle sofort vermietet werden. Oft müßten zuvor erst noch Renovierungs- und Sanierungsarbeiten erfolgen. Dafür fehlt den Eigentümern nicht selten das Geld – oder aber die Aussichten, die Wohnung anschließend vermieten zu können, sind schlecht. Ein großer Teil von ihnen liegt in Stadtvierteln oder kleinen Ortschaften, wo niemand hinziehen will, weil die örtliche Wirtschaft am Boden liegt, die Arbeitslosigkeit hoch ist und keine Aussicht auf Besserung besteht.
Selbst in Paris stehen 120.000 Wohnungen leer, und in der Pariser Region, also der Hauptstadt mitsamt der sieben umliegenden Departements, sind es 400.000. Weitere 300.000 entfallen auf zehn Großstädte (außer Paris) und 600.000 auf 50 mittelgroße Städte des Landes.
Wer glaube, der Markt würde das Problem regeln, irrt, stellt die Stiftung Abbé Pierre fest. Tatsächlich halten nicht wenige Eigentümer Wohnungen zurück, weil sie für die nahe Zukunft auf eine Anhebung der gesetzlich zulässigen Mieten spekulieren. Um dem entgegenzuwirken, haben linke Parteien schon vor Jahren, als sie die Regierung stellten, eine Art »Strafsteuer« auf leerstehende Wohnungen durchgesetzt, die Städte und Gemeinden mit besonders angespannten Wohnverhältnissen erheben können. Von den landesweit 36.000 Kommunen Frankreichs dürfen heute 2.100 diese Steuer anwenden. Sie beträgt je nach Ortschaft im ersten Jahr 12,5 bis 17 Prozent, und in den folgenden Jahren jeweils 25 bis 34 Prozent der theoretisch zulässigen Miete. Das führt oft dazu, daß die Eigentümer doch vermieten oder aber verkaufen.
Kritiker, vor allem aus den Reihen der linken Oppositionsparteien, halten das längst noch nicht für ausreichend. Sie fordern, einerseits die Mittel für den sozialen Wohnungsbau wesentlich aufzustocken und andererseits die Steuervergünstigungen und die Bedingungen zur Kreditvergabe für Familien, die eine Wohnung kaufen oder ein Haus bauen wollen, spürbar zu verbessern.
Nicht wenige Wohnungseigentümer zögern auch zu vermieten, weil in den zurückliegenden Jahren andere Vermieter schlechte Erfahrungen gemacht haben und solche Fälle von den Medien sehr eindrucksvoll geschildert wurden. Da blieben Familien über viele Jahre ihre Miete schuldig und konnten erst nach einem langjährigen juristischen Tauziehen exmittiert werden. Nicht selten haben solche Mietpreller die Wohnung dann in extrem heruntergekommenem Zustand zurückgelassen oder sogar mutwillig Armaturen und andere Einrichtungen zerstört, so daß eine Grundüberholung nötig wurde.
Solche krassen Einzelfälle hat die Regierung, mit Unterstützung der rechten Oppositionspartei der Republikaner, zum Anlaß genommen, um im Parlament ein Gesetz einzubringen und annehmen zu lassen, das vor allem illegale Hausbesetzungen ins Visier nimmt, aber auch gegen säumige Mieter anwendet werden kann. Danach werden Exmittierungsverfahren wesentlich erleichtert und die Frist der Behandlung durch Justiz und Polizei auf nur noch wenige Monate verkürzt.
Linke Parteien und die Gewerkschaften warnen, daß dieses Gesetz auch viele Familien zu treffen droht, die unverschuldet in Zahlungsschwierigkeiten geraten sind und denen die Sozialdienste unter den aktuellen Bedingungen zu wenig helfen.
Ein Anstieg der Zahl leerstehender Wohnungen ist allerdings auch durch ein 2021 verabschiedetes und eigentlich gut gemeintes Gesetz zu erwarten. Danach dürfen anhand einer von A bis G reichenden Klassifizierungsskala für die Wärmeisolierung seit 1. Januar des laufenden Jahres Wohnungen der Klasse G nicht mehr neu vermietet werden. Für Wohnungen der Klassen F, E und D ist dieser Stichtag