Hilflos ausgeliefert statt beklatscht
Viel geklatscht und musiziert wurde im Frühjahr 2020 von den Balkonen in der ganzen Welt, um dem medizinischen Personal, welches, aufgrund der massiven Einsparungen im Sektor in den vergangenen Jahren ohnehin schon unter hohem Druck arbeitend, nun bis zur buchstäblichen Erschöpfung schuftete, um der ersten Welle der Corona-Pandemie Herr zu werden.
Das Musizieren verschwand bald, und geklatscht wurde auch immer weniger für Ärzte und Pflegepersonal, dafür immer öfter für die Köpfe einer Szene, die mit ihren Theorien gegen die Bekämpfung der Pandemie wetterten, bis die Bewegung bröckelte und die Drahtzieher größtenteils mit ihren Profiten verschwanden.
Ein kleiner Teil der Szene jedoch radikalisierte sich zunehmend, insbesondere auch in Österreich, wo Krankenhauszufahrten durch Demonstranten symbolisch blockiert und Akteure des öffentlichen Lebens, wie Politiker, Schauspieler oder Musiker, an digitale Pranger gestellt wurden, weil sie sich mit der Pandemiebekämpfung einverstanden zeigten.
Nun hat sich gezeigt, daß die gefährliche Saat aufgegangen ist, ohne daß sich die Behörden, deren Aufgabe es sein sollte, die Bürger zu schützen, weiter dafür interessiert hätten: Die Ärztin Lisa-Maria Kellermayr, die sich in der Pandemie für Corona-Patienten eingesetzt hatte, beging Selbstmord, nachdem eine auf Twitter abgesetzte Kritik an der Blockierung von Krankenhauszufahrten von der Polizei gekontert wurde und ein digitale Hetzjagd auf die Frau ihren Anfang nahm, in deren Verlauf sie von Impfgegnern nicht nur in der Praxis bedroht wurde, sondern auch online Drohungen an sie und ihr Team erhielt, in denen die Rede von »Hinrichtung« oder »Abschlachtung« war. Eine deutsche Hackerin konnte mittlerweile den Urheber der Haß-Postings offenlegen. Dieser stammt aus Deutschland. Die Mühlen der Bürokratie laufen langsam, insbesondere grenzübergreifend.
Hilfe suchte die 38-jährige Medizinerin dort, wo man Hilfe erwarten könnte: Bei den Behörden, zuvorderst bei der Polizei. Von hier wurde ihr über die Medien eine erhöhte Geltungssucht bescheinigt. Die Position der Polizei war in den vergangenen Jahren in Bezug auf die Verschwörerszene nicht nur in Österreich nicht immer ganz glücklich. Auf Kritik in den sozialen Medien reagierte ein involvierter Beamter im Fall Kellermayr lediglich mit einer Unterlassungsklage gegen den Twitter-Nutzer. Erklärungen gab es keine. Am vergangenen Montagabend versammelten sich unterdessen tausende Menschen in vielen Städten Österreichs, um Aufklärung zu fordern und sich zu solidarisieren. Die größte Veranstaltung fand in Wien statt. Mit einem Foto versehen schrieb der Musiker Marco Pogo dazu auf Facebook: »Es ist schön, daß so viele hier stehen, aber eine Schande, daß so viele hier stehen müssen«.
Wir stellen fest, daß der Konflikt um die Corona-Maßnahmen, um wissenschaftliche Fakten und Gegenparolen keineswegs der Vergangenheit angehört und daß viele, die sich jeden Tag im Kampf gegen das Virus befinden, mehr Schutz und Respekt verdienen, nicht nur von Behörden, sondern auch von der breiten Masse, und nicht erst, wenn es zu spät ist.
Die Weichen wurden schon zu Beginn der Pandemie falsch gestellt: Eine schlechte Informationspolitik und ein Regel-Wirrwarr haben es versäumen lassen, die breite Bevölkerung zu solidarisieren. Dies stellte rezent auch der französische Prof. Delfraissy mit Blick auf die dortige Pandemiestrategie fest.