Ausland27. Februar 2024

Unter falscher Flagge (4)

China: ein von der westlichen Propaganda erfundener Feind?

von Julien Lassout

Bedroht China die Sicherheit und Freiheit Europas? Ist sein »Regime« so gefährlich, weil es das »demokratische« und »unabhängige« Taiwan bedroht?

Das vor kurzem in Frankreich erschienene Buch des Luxemburgers Albert Ettinger (»La Chine – un ennemi fabriqué par la propagande?«) setzt sich mit den Themen auseinander, die in der westlichen Antichina-Propaganda seit Jahr und Tag im Vordergrund stehen.

Gewisse Kreise wollen uns weismachen, der kollektive Westen hätte das Recht und die Pflicht, Taiwan gegen China zu »verteidigen«. Deshalb erklärt Albert Ettinger in seinem Buch zunächst, was Taiwan eigentlich ist – und was nicht.

Es gibt keinen Staat namens Taiwan

Taiwan ist nämlich kein Staat. Taiwan ist eine nahe am chinesischen Festland gelegene Insel, die historisch, völkerrechtlich, ethnisch und kulturell zu China gehört.

Historisch, weil sie ab dem 17. Jahrhundert (unter den Dynastien der Ming und der Qing) von China verwaltet wurde. Zum Vergleich und als Bezugsrahmen erwähnt Albert Ettinger, dass z.B. Kalifornien erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu den USA gehört und dass die Stadt Nizza erst 1860 französisch wurde. Die 50 Jahre japanischer Kolonialherrschaft (1895-1945) ändern nichts an dieser grundlegenden Tatsache, zumal die Insel in der Endphase des Zweiten Weltkriegs im Rahmen der Konferenzen von Kairo und Potsdam an China zurückgegeben wurde.

Womit wir beim Völkerrecht wären. In den Augen der internationalen Völkergemeinschaft ist Taiwan Teil der Volksrepublik China, spätestens seit die UNO-Generalversammlung am 25. Oktober 1971 mit einer Zweidrittelmehrheit die »Wiederherstellung der legitimen Rechte der Volksrepublik China in der Organisation der Vereinten Nationen« beschloss und feststellte, dass das in Taiwan etablierte Regime einer »Republik China« eine »illegale Autorität« sei, die nur aufgrund der ständigen Präsenz der USA-Streitkräfte auf diesem kleinen Teil chinesischen Territoriums fortbestehe.

Taiwan, »offiziell« immer noch »Republik China« geheißen, unterhält nur noch mit einem Dutzend kleiner Staaten diplomatische Beziehungen (in Europa nur mit dem Vatikan, in Afrika nur mit dem Königreich Eswatini), während »der Rest der Welt« die Regierung in Beijing als alleinige Vertreterin ganz Chinas anerkennt.

Antichinesische Provokationen und geistige Verrenkungen

Zu diesem »Rest der Welt« gehört auch Frankreich. Wenn ein privater französischer Fernsehsender dennoch einen angeblichen »Botschafter Taiwans in Frankreich« interviewt, wie unlängst geschehen, so ist dies eine ebenso lächerliche wie hilflose Provokation.

Ethnisch gehört Taiwan zu China, denn die Bewohner der Insel sind zu 95,31 Prozent oder 98 Prozent (Han)-Chinesen – die Zahlen stammen aus vom Autor zitierten Wikipedia-Artikeln. Zu welch grotesken geistigen Verrenkungen westliche »Experten« nichtsdestotrotz bereit sind, um den chinesischen Charakter der Insel anzuzweifeln, zeigt Albert Ettinger am Beispiel von Antoine Bondaz. Dieser junge Franzose von der staatlich finanzierten »Stiftung für strategische Forschung« schreckt selbst vor grotesken geistigen Verrenkungen nicht zurück wie der Behauptung, Taiwan sei – im Unterschied zu China – eine »multiethnische Gesellschaft«, weil es dort »nicht nur Chinesen« gebe, sondern »historisch vor allem eine austronesische Bevölkerung« (von etwa 2 Prozent). Außerdem habe Taiwan »europäische Migrationsbewegungen« erlebt. Als solche bezeichnet er … die kolonialen Eroberungsversuche der Portugiesen, Spanier, Holländer, Engländer und Franzosen!

Was Sprache und Kultur anbelangt: Wie auf dem chinesischen Festland ist die Amtssprache auf Taiwan Mandarin. Daneben sprechen die Einwohner südchinesische Dialekte wie in den Nachbarprovinzen auf dem Festland. Taiwan ist nach wie vor eine Hochburg der chinesischen Kultur, sowohl der traditionellen als auch der modernen. Das »Nationale Palastmuseum« in Taipeh ist kein taiwanesisches, sondern ein chinesisches Nationalmuseum. Es bewahrt die gestohlenen und nach Taiwan verschleppten Sammlungen aus dem Kaiserpalast in Peking auf, rund 697.490 chinesische Kunstwerke.

»Demokratie« versus »Autokratie«?

Wenn die USA Taiwan seit den 1950er Jahren »verteidigen«, dann nicht wegen seines »demokratischen« Systems. Das Regime in Taiwan ist ein Überbleibsel des chinesischen Bürgerkriegs, in dem die USA den blutrünstigen Diktator Tschiang Kai-schek (Jiǎng Jièshí) gegen die chinesischen Kommunisten unterstützten. Nach dessen Flucht auf Taiwan verhinderte die 7. USA-Flotte, dass die Insel befreit wurde. Anschließend lebten die Menschen dort rund 40 Jahre unter dem Kriegsrecht. Während dieser Periode des »weißen Terrors«, die sich bis Ende der 1980er Jahre erstreckte, wurden (laut Wikipedia) 140.000 Personen inhaftiert und zwischen 3.000 und 4.000 hingerichtet. Dagegen hatten die USA und ihre Vasallen nichts einzuwenden, im Gegenteil. Taiwan, als Basis des USA-Militärs, bot den GI‘s während der verbrecherischen USA-Kriege in Ostasien »Vergnügen und Erholung« von ihrem anstrengenden Mordhandwerk.

Taiwan ist auch heute alles andere als eine Musterdemokratie, wie Albert Ettinger nachweist. Meinungs- und Pressefreiheit sind stark eingeschränkt, und statt Wortgefechten liefern sich die Parlamentarier öfters mal Raufereien und Faustkämpfe. Vor allem aber gibt es keine Demokratie ohne Souveränität, und es sind die USA, die über die Politik der Insel bestimmen.

China strebt eine friedliche Wiedervereinigung an

Lange Zeit sahen sich die Einwohner Taiwans nicht nur als Chinesen, sondern als die »besseren« Chinesen. Inzwischen gibt es allerdings auf der Insel eine starke separatistische Bewegung, die von Washington nach Kräften gefördert wird. Ihre historischen Wurzeln sind zum einen die koloniale Vergangenheit, denn die Politiker, die als erste separatistischen Bestrebungen Ausdruck und Stimme verliehen, waren frühere Kollaborateure Japans. Zum anderen sind separatistische Einstellungen durch die Erinnerung an die Grausamkeit des »gesamtchinesisch« orientierten Tschiang Kai-schek-Regimes bedingt.

Möglichst gute und enge Beziehungen zum chinesischen Festland sind im ureigensten Interesse Taiwans und seiner Menschen, meint Albert Ettinger. Die Wirtschaft der Insel ist auf den Export ausgerichtet, und mehr als 42 Prozent dieser Exporte gehen in die Volksrepublik China, von wo Taiwan auch etwa 22 Prozent seiner Importe bezieht. Damit ist das chinesische Festland bei weitem der wichtigste Handelspartner Taiwans, weit vor den USA. Darüber hinaus ist die Volksrepublik auch das wichtigste Ziel für Investitionen aus Taiwan. Nach Angaben der Behörden in Taipei haben taiwanesische Unternehmen zwischen 1991 und Ende Mai 2021 rund 194 Milliarden US-Dollar in insgesamt 44.577 Projekte auf dem Festland investiert.

Die engen und für beide Seiten vorteilhaften Beziehungen gehen weit über den rein wirtschaftlichen Bereich hinaus. So haben mehr als 1.000 Universitäten auf beiden Seiten der Taiwanstraße an 1.300 Austauschprogrammen teilgenommen, und etwa 60.000 taiwanesische Lehrkräfte und Studenten haben zwischen 2012 und 2022 das Festland besucht.

Die chinesische Regierung ist deshalb zuversichtlich, dass auf längere Sicht »zusammenwächst, was zusammengehört«, wie es einst ein westdeutscher Kanzler formulierte. Das setzt allerdings voraus, dass sich ausländische Mächte, die eigene, konträre Interessen verfolgen, nicht einmischen. Eine solche Einmischung kann China nicht dulden, denn für Volk und Regierung ist die Wiedervereinigung mit Taiwan eine Frage der nationalen Souveränität und der territorialen Integrität.

Wortbruch und Doppelzüngigkeit der USA

Albert Ettinger erinnert daran, dass drei gemeinsame Erklärungen die Grundlage der bilateralen Beziehungen zwischen den USA und China bilden. Es sind dies das sogenannte »Shanghai-Kommuniqué« vom 28. Februar 1972, das »Gemeinsame Kommuniqué über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen« vom 1. Januar 1979 und das Kommuniqué vom 17. August 1982.

Die drei Erklärungen bekräftigen, dass beide Seiten die nationale Souveränität und territoriale Integrität der jeweils anderen Seite respektieren werden – eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Im zweiten Kommuniqué erkennen die USA an, »dass die Regierung der Volksrepublik China die einzige rechtmäßige Regierung Chinas ist« und dass die USA folglich »die offiziellen politischen Beziehungen zur Republik China (‚Taiwan‘) beenden«. Im dritten Kommuniqué bekräftigt die USA-Regierung, dass sie nicht die Absicht habe, die Souveränität und territoriale Integrität Chinas zu verletzen oder eine Politik der »zwei Chinas« bzw. »ein China, ein Taiwan« zu verfolgen. Darüber hinaus erklärt sie, dass sie keine langfristige Politik der Waffenverkäufe an Taiwan verfolge, sondern dass sie beabsichtige, ihre Waffenverkäufe an Taiwan schrittweise zu reduzieren.

Politische und militärische Provokationen

Die USA sind offensichtlich wortbrüchig und halten ihre vertraglichen Verpflichtungen gegenüber China nicht ein. Vielmehr lassen sie keine Gelegenheit aus, China in der Taiwanfrage zu provozieren. Sie vervielfachen die offiziellen Besuche hochrangiger USA-Politiker auf der Insel, sie haben dort erneut USA-Militärs stationiert und sie erhöhen ständig ihre Waffenverkäufe an Taiwan.

Vieles deutet darauf hin, dass sie einen Krieg mit China anstreben.

Sie verfolgen eine aggressive Strategie, die bezweckt, China im Falle eines militärischen Konflikts den Zugang zum Südchinesischen Meer, über das fast sein gesamter Handel abgewickelt wird, abzuschneiden. Dazu dient ihre Kontrolle über die Inselkette, die das chinesische Festland von Japan im Norden bis Borneo im Süden umgibt. Taiwan ist ein zentrales Glied dieser Kette. Die USA betrachten die Insel als einen »unsinkbaren Flugzeugträger«, der für ihre Politik der Eindämmung Chinas unerlässlich ist.

Trotz der chinesischen Proteste schickt die USA-Marine regelmäßig Kriegsschiffe durch den 110 Meilen breiten Kanal, der Taiwan vom chinesischen Festland trennt. Inzwischen gesellen sich auch Kriegsschiffe von europäischen NATO-Staaten dazu. Es handelt sich hierbei jedes Mal um eine unverschämte Provokation. Stellen wir uns einmal vor, so der Autor, wie Frankreich reagieren würde, wenn China seine Flugzeugträger in den Gewässern zwischen Rocquebrune Cap-Martin und Korsika kreuzen ließe.

Das Interesse der Bevölkerung Taiwans

Glaubt man den westlichen Medien, so ist es allerdings China, das angeblich »eine aggressive Politik« verfolgt, bestehend aus »militärischen Provokationen« gegenüber Taiwan und seinem uneigennützigen Beschützer, den USA.

Albert Ettinger zeigt, dass es den Strategen der USA keineswegs darum geht, Taiwan und seine Menschen zu verteidigen. Sie haben offen erklärt, dass sie nicht zögern würden, im Falle einer bevorstehenden Wiedervereinigung Taiwans mit China die Wirtschaft der Insel zu zerstören, um zu verhindern, dass Peking davon profitieren kann. Das Wohlergehen der Taiwanesen scheint also ihr geringstes Anliegen zu sein.

Selbst wenn es nicht zum Schlimmsten kommt: Jede Verschlechterung der Beziehungen zum Festland schadet der taiwanesischen Wirtschaft und somit dem Wohlergehen der Einwohner Taiwans. Sie nützt ausschließlich den USA. Im Falle eines von den USA provozierten militärischen Konflikts aber droht Taiwan das gleiche Schicksal wie der Ukraine. Es wäre am Ende zerstört, verwüstet und ausgeblutet.