Ausland16. Juli 2024

Made in USA: Präzisionsgelenkte Bomben auf Notunterkünfte im Flüchtlingslager Al Mawazi

Israel setzt mörderische KI gegen palästinensische Zivilbevölkerung ein

von Karin Leukefeld, Beirut

Die israelische Armee hat erneut ein Lager palästinensischer Binnenflüchtlinge bombardiert. Ziel war das Flüchtlingslager Al Mawasi, das westlich der Stadt Khan Younis mehr als 80.000 Menschen beherbergt. Die israelische Armee hatte das Lager zuvor im Zusammenhang mit Aufforderungen zur Evakuierung der Bevölkerung als »sichere Zone« ausgewiesen.

In der Nacht zum Montag wurde gemeldet, daß bei einem Luftangriff im Gazastreifen auf ein Schulgebäude im Flüchtlingsviertel Nuseirat mindestens 15 Menschen getötet und Dutzende verletzt wurden. Das israelische Militär erklärte, daß es »mehrere Kämpfer der Hamas« im Areal einer Schule der UNRWA angegriffen habe. Das Objekt habe »den Terroristen als Versteck und Operationsbasis für Attacken auf das israelische Militär gedient«. In Nuseirat im mittleren Gazastreifen hatte die israelische Armee erst kürzlich nach eigenen Angaben mehrere in einem Schulgebäude verschanzte Terroristen aus der Luft angegriffen. Auch dabei sei »Präzisionsmunition eingesetzt worden, um zivile Opfer zu vermeiden«.

Bei dem Angriff auf das Flüchtlingslager Al Mawasi am Samstag wurden mindestens 90 Menschen getötet. Mehr als 300 Verletzte wurden in umliegende Krankenhäuser und Feldlazarette eingeliefert. Zeltunterkünfte, Fahrzeuge und eine Anlage zur Destillation von Wasser wurden zerstört. Unter den Verletzten waren auch Rettungssanitäter, die versuchten hatten, Tote und Verletzte zu bergen. Augenzeugen berichteten, die Helfer seien trotz ihrer Westen, die sie als Sanitäter kennzeichneten, direkt angegriffen worden. Der Direktor der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Tedros Adhanom Ghebreyesus sagte, viele Menschen seien noch unter den Trümmern verschüttet.

Die palästinensische Organisation »Medizinische Hilfe für Palästinenser« berichtete, die Menschen hätten versucht, mit bloßen Händen Leichen zu bergen, die unter Sand und Trümmern begraben seien. Die Krankenhäuser Nasser und Amal in Khan Younis und das Kuwaiti-Krankenhaus in Rafah seien völlig überlastet. Alle 15 Minuten verlasse ein Toter das Nasser-Krankenhaus, um beerdigt zu werden, berichtet ein freiwilliger Helfer in der Klinik. »Es ist eine Tragödie. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

Auch in der Nacht zu Sonntag setzten die israelische Armee und Luftwaffe ihre Angriffe auf Notunterkünfte von vertriebenen Palästinensern fort. Im Flüchtlingslager Al Shati, nordwestlich von Gaza-Stadt, wurden mindestens 20 Personen getötet, die vor einer zerstörten Moschee gebetet hatten. In Gaza-Stadt wurden, wie schon seit Tagen, die brutalen Angriffe der israelischen Armee in verschiedenen Stadtteilen fortgesetzt.

Das palästinensische Gesundheitsministerium in Gaza teilte am Sonntag mit, daß die Zahl der Toten seit dem 7. Oktober 2023 auf mindestens 38.584 gestiegen sei. Allein in den 24 Stunden seit Samstag seien 141 Tote gezählt worden.

Luft von Blutgeruch erfüllt

International wurde der Angriff insbesondere von den Staaten der Region verurteilt. Aus Washington und Berlin lagen bis Redaktionsschluß keine kritischen Äußerungen vor. Der Noch-Außenbeauftragte der EU, Joseph Borrell, forderte wie in ähnlichen Fällen lediglich »eine Untersuchung«. Die UNO-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese zeigte sich gegenüber dem katarischen Nachrichtensender »Al Jazeera« empört darüber, daß die Straffreiheit Israels geduldet werde, denn erst das ermögliche es dem Land, »diesen völkermörderischen Krieg zu führen«.

Der stellvertretende humanitäre Koordinator der UNO-Hilfsagentur für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA), Scott Anderson sagte, er habe im Nasser-Krankenhaus »einige der schrecklichsten Szenen erlebt, die ich in meinen neun Monaten in Gaza gesehen habe.« Weit über 100 Schwerverletzte habe die Klinik aufgenommen, doch viele Patienten seien auf dem Boden ohne Desinfektionsmittel behandelt worden, weil es an Betten und überhaupt an allem fehle. »Aufgrund von Strom- und Treibstoffmangel waren die Belüftungsanlagen abgeschaltet und die Luft war von Blutgeruch erfüllt«, berichtete Scott Anderson in einer Erklärung.

Verzweifelte Eltern hätten ihm gesagt, daß sie in die humanitäre Zone gezogen seien in der Hoffnung, daß ihre Kinder dort sicher wären, sagte Anderson. Er forderte erneut, Zivilisten jederzeit zu schützen. Eine Waffenruhe sei dringend notwendig, und die im Gazastreifen verbliebenen Geiseln müßten freigelassen werden.

Nützlicher Mordversuch

Die israelische Armee gab an, Ziel des Angriffs auf das Flüchtlingslager Al Mawasi seien hochrangige Hamas Kommandeure gewesen, darunter auch Mohammed Deif. Ein israelischer Militärsprecher erklärte vor Journalisten laut einer Meldung der Deutschen Presseagentur (dpa), »das angegriffene Objekt« habe sich zwar in einer »humanitären Zone« befunden, allerdings habe es sich um eine »abgezäunte, bewachte Hamas-Basis« gehandelt, »besetzt mit Terroristen«.

Die Hamas wies die Angaben zurück. Die anhaltenden israelischen Massaker gegen die Zivilbevölkerung seien Ausdruck des »chaotischen Zustands der israelischen Regierung«. Mohammed Deif sei unbeschadet, wurden verschiedene Offizielle der Hamas in arabischen Medien zitiert. Allerdings könnten die Verhandlungen über einen Gefangenenaustausch und einen Waffenstillstandsplan »jeden Moment« abbrechen, Benjamin Netanjahu blockiere die Gespräche.

Ahmed Abdel Hadi, der die Hamas im Libanon vertritt, sagte dem libanesischen Nachrichtensender »Al Mayadeen«, die Massaker in Gaza seien »schmerzhaft«, würden aber nicht dazu führen, daß der Widerstand sich den Bedingungen der Besatzungsmacht und der mitschuldigen USA-Administration unterwerfen werde. Wichtig sei nicht nur der Widerstand im Kampf, sondern auch politisch und diplomatisch.

Der Palästinensische Islamische Dschihad warf Israel vor, falsche Behauptungen zu verbreiten, um »die Vernichtung unseres Volkes voranzutreiben«. Das Verbrechen in Al Mawasi bestätige, »daß die Besatzungsmacht alle internationalen Regeln und Vereinbarungen mißachtet.«

Netanjahus Botschaft an die Welt

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erklärte im Hauptquartier des israelischen Kriegsministeriums in Tel Aviv, man sei sich »nicht völlig sicher«, ob die Hamas-Kommandeure getötet worden seien. Allerdings sei schon der Versuch, die Hamas Kommandeure zu töten, »eine Nachricht an die Welt, daß die Tage der Hamas gezählt sind«, so Netanjahu, der ohne Kriegsminister Yoav Gallant vor die Presse trat.

Genau das werde er auch in der kommenden Woche vor dem USA-Kongreß in Washington sagen: »Ich werde die Botschaft Israels in die USA und in die gesamte Welt tragen«, tönte Netanjahu. Der israelische Ministerpräsident folgt einer Einladung aller Fraktionen im USA-Kongreß und wird am voraussichtlich am 24. Juli in Washington eine Rede halten.

Nach einem Bericht der »Times of Israel« hatte Netanjahu den Angriff auf das Flüchtlingslager Al Mawasi genehmigt, nachdem er »zufriedenstellende Informationen über Kollateralschäden und über die Art der eingesetzten Munition« erhalten habe. Bei dem Angriff mit Kampfjets und Kampfdrohnen wurden laut einem Bericht des israelischen Armeerundfunks acht JDAM-Bomben abgeworfen.

»Joint Direct Action Munition« ist ein »Nachrüstsatz« des US-amerikanischen Rüstungskonzerns Boeing, der aus einer »ungelenkten« eine »präzisionsgelenkte« Bombe macht. So können die Bomben, die zusätzlich mit Künstlicher Intelligenz und modernen Sensoren ausgerüstet sind, mit Laser und/oder GPS in ein Ziel gelenkt werden.

Der JDAM »Nachrüstungssatz« ist Standard in NATO-Armeen für die am häufigsten eingesetzten Bomben der Serie MK 80, die vom US-amerikanischen Rüstungskonzern General Dynamics produziert wird. Die MK-Bomben tragen 500 Pfund, 1000 Pfund oder 2000 Pfund Sprengstoff. Erst am Freitag wurde gemeldet, daß die USA-Administration entschieden hat, Israel weiterhin mit schweren Bomben zu beliefern, nachdem die Lieferung wegen der mit den USA nicht abgesprochenen Angriffe auf Rafah für kurze Zeit offiziell ausgesetzt worden waren.