Leitartikel04. Juli 2024

Der Markt regelt es nicht

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Es gibt Länder, deren Regierungen bemühen sich zumindest, Kinderarmut zu reduzieren. Luxemburg gehört nicht dazu. Einer Ende 2023 veröffentlichten Studie des UNO-Kinderhilfswerks UNICEF zufolge haben 17 von 39 untersuchten Mitgliedstaaten von OECD und EU das Armutsrisiko zwischen 2012 und 2022 um rund zehn Prozent senken können.

Polen, Slowenien, Lettland und Litauen reduzierten das Armutsrisiko im zehnjährigen Berichtszeitraum sogar um 30 Prozent. Polen zum Beispiel, indem die Regierung einen größeren Anteil des Staatsbudgets in Familienleistungen steckte, und Slowenien, weil es den gesetzlichen Mindestlohn erhöhte.

Luxemburg gehört zu den Ländern, in denen die Kinderarmut seit Jahren nicht zurückgeht, sondern sogar steigt. Laut Caritas läuft im reichen Luxemburg mittlerweile fast jedes vierte Kind Gefahr, in Armut aufzuwachsen. Das bedeute, daß das tägliche Leben von etwa 30.000 Kindern mit Armut und anderen Entbehrungen konfrontiert sei. Bei ungefähr der Hälfte von ihnen sei dieser Zustand dauerhaft.

Kinderarmut ist besonders tragisch, weil auch die Bildungswege der Kinder entscheidend von der sozialen Herkunft beeinflußt werden. Armut erschwert oder verhindert Bildungserfolge, während Reichtum sie geradezu bedingt. Kinder aus »sozial benachteiligten« Familien verlassen Schulen öfter ohne Zeugnis und besuchen deutlich seltener Universitäten.

Lehrer können die Bildungsbenachteiligung armer Kinder zwar lindern und die Schulöffentlichkeit dafür sensibilisieren, sie können sie aber nicht aufheben. Vielmehr ist auch die beste Pädagogik hilflos, wenn die Regierung durch ihr Handeln mehr sozioökonomische Ungleichheit schafft. Bildung ist schon deshalb kein Patentrezept gegen Armut, weil man im Kapitalismus superschlau und bettelarm, aber auch strohdumm und steinreich sein kann.

Die Autoren der UNICEF-Studie legen auch Wert auf die Feststellung, daß ein niedriges Armutsrisiko nicht von der Wirtschaftskraft des Landes abhängt. So hätten Spanien und Slowenien ein ähnlich hohes Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, aber Slowenien habe ein wesentlich niedrigeres Armutsrisiko bei Kindern als Spanien. Auch in Luxemburg ist die Armut relativ zum BIP außerordentlich hoch.

Doch haben – darauf hat dankenswerterweise am Dienstag OGBL-Präsidentin Nora Back noch einmal hingewiesen – arme Kinder arme Eltern. Das liegt oft daran, daß Arbeit im Kapitalismus immer öfter nicht vor Armut schützt, sondern sie noch festschreibt.

Laut einem aktuellen Bericht der Chambre des Salariés ist der Anteil der Schaffenden, die trotz Arbeit von Armut bedroht oder betroffen sind, in unseren Nachbarländern relativ stabil geblieben, während die Zahl der sogenannten Working Poor bei uns von 2017 bis 2023 um ungefähr 45 Prozent gestiegen sei. Mittlerweile gilt in Luxemburg mehr als jeder siebte Schaffende als »erwerbsarm«.

Gegen Armut hilft Geld. Gegen Erwerbsarmut helfen faire Löhne. Dazu muß der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Schaffenden – gerade in den Niedriglohnbranchen – ausgebaut werden. Der Anteil der Schaffenden, die in den Genuß eines Kollektivvertrags fallen, muß genauso erhöht werden, wie der gesetzliche Mindestlohn, das REVIS und die Familienleistungen. Denn Kinder sind nie alleine arm, ihre Armut ist immer auch Familien- und in aller Regel auch »Erwerbsarmut«.

Das alles ließe sich politisch ändern, auch ohne das kapitalistische Übel an der Wurzel zu packen. Doch dazu müßte die Regierung zur Kenntnis nehmen, daß das Armutsproblem weit über das erkannte Problem Kinderarmut hinausgeht. Der Markt regelt es nicht.