Kaleidoskop04. Juli 2024

Die Himmelsscheibe von Nebra: Sonne, Mond und Sterne

Halle – Es ist Sonntag, der 4. Juli 1999, als gegen 15 Uhr die Sonde anschlägt. Der sehr starke, hohe Pfeifton im Kopfhörer signalisiert dem Mann, daß ein großes Teil dicht unter der Erdoberfläche liegt. Mit dem Fuß schiebt er ein paar Laubblätter zu Seite und lockert mit einem umgearbeiteten Feuerwehrbeil das Erdreich auf. Plötzlich schlägt er mit dem Beil auf Metall. Sein Komplize kommt dazu. Etwas Rundes lehnt an einem Stein. Als die beiden Männer ihn entfernt haben, sehen sie, daß eine Scheibe zusammen mit anderen Stücken im Boden steckt. Was sie nicht ahnen: Bei der Scheibe handelt es sich um die älteste konkrete Darstellung astronomischer Phänomene weltweit.

Am Ende haben die Männer zwei Beile, einen Meißel, zwei zerbrochene Armspiralen und zwei Schwerter aus dem Boden geholt. Die Griffe der Schwerter sind mit Goldklammern verziert. Sie sind wertvoll, das erkennen die Männer sofort. Mit der Scheibe können sie nichts anfangen, sie nehmen sie mit, immerhin glänzt Gold darauf. So wird es einer der Angeklagten später im Prozeß schildern, in dem es unter anderem um Fundunterschlagung ging.

Die Scheibe bleibt zunächst unerreichbar. Erst am 23. Februar 2002 wird der bronzezeitliche Schatz in einem Baseler Hotel von der schweizerischen Polizei sichergestellt. Vorausgegangen waren Monate der Suche. Bereits die ersten verschwommenen Fotos der Scheibe hatten den deutschen Archäologen Harald Meller elektrisiert. Und als er das Fundstück endlich zum ersten Mal in den Händen hielt, war er überwältigt von der bildnishaften Qualität.

»Es ist ein großer Glücksfall, daß die Himmelsscheibe von Nebra nach ihrer Bergung durch illegale Sondengänger für das Land Sachsen-Anhalt bewahrt werden und ihre Fundstelle sowie Echtheit durch kriminologische Methoden, naturwissenschaftliche Untersuchungen und Nachgrabungen festgestellt werden konnten«, sagt der Landesarchäologe 25 Jahre später. Es eröffne den Menschen nicht für möglich gehaltene Einblicke in das Wissen und die Vorstellungswelt unserer Vorfahren. »Das ist ein Jahrhundertfund von weltweiter Bedeutung«, sagte Meller. »Dieses Wissen würde uns fehlen, wäre sie im Kunsthandel verkauft worden.«

Auf der zwei Kilogramm schweren Scheibe von der Größe einer Schallplatte befinden sich Goldauflagen, die von Archäologen als Horizontbögen, ein Schiff sowie Mond, Sonne und Sterne gedeutet werden. Sieben Goldpunkte werden als Sternenhaufen der Plejaden, in einer Konstellation wie vor 3.600 Jahren, gedeutet. Seit 2008 befindet sich die Himmelsscheibe in der Ausstellung des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle.

Die Himmelsscheibe beflügelte die archäologische Forschung. Eines der weltweit größten Forschungsprojekte zur Bronzezeit lief zwischen 2004 und 2012. Untersucht wurden der Sensationsfund samt Umfeld. An dem Projekt beteiligten sich 36 Wissenschaftler unter anderem aus Halle, Jena, Tübingen, Bochum, dem Saarland und aus dem schottischen Edinburgh.

Heute ist klar, die damalige Gesellschaft war wesentlich komplexer als bisher angenommen, verfügte über Fernhandelsbeziehungen und große handwerkliche Fähigkeiten. Auch weil die Scheibe topographische Bezüge zum Brockenmassiv im Harz aufweist, stammt sie, Experten zufolge, aus Mitteldeutschland.

Ihre Hersteller haben in einer ersten Nutzungsphase eine Schaltregel zur Harmonisierung des 354 Tage langen Mondjahres und des 365 Tage langen Sonnenjahres verschlüsselt. In einer zweiten Phase codierten sie steinzeitliches kalendarisches Wissen zur Bestimmung der Sommer- und der Wintersonnenwende. Denn schon vor 7.000 Jahren konnten der Lauf der Gestirne und der richtige Zeitpunkt für die Aussaat bestimmt werden.