Proteste und Gewaltakte nach Todesschüssen der Polizei
Erinnerung an die wochenlangen Unruhen vom Herbst 2005
Proteste, Gewaltakte und Zusammenstöße mit der Polizei als Reaktion auf den Tod des 17-jährigen Nahel M., der am Dienstag durch Schüsse eines Polizisten ums Leben gekommen war, bestimmten auch die Nacht zum Freitag in seiner Heimatstadt Nanterre und in vielen anderen Städten Frankreichs.
Das Innenministerium hatte in dieser bereits dritten Nacht von Unruhen landesweit 40.000 Polizisten und Gendarmen mobilisiert, davon 10.000 allein in der Pariser Region. Das waren viermal so viele Ordnungskräfte wie in der Nacht zuvor. Sie konnten aber auch nicht verhindern, daß die Unruhen auf immer mehr und dabei auch auf kleinere Orte übergegriffen haben. Im Pariser Vorstadtdepartement Seine-Saint-Denis, dem ärmsten Departement des Landes, waren fast alle Ortschaften betroffen. Unter den großen Städten fiel besonders Marseille auf, wo es in den Nächten zuvor ruhig geblieben war.
Überall gab es Zusammenstöße zwischen Jugendlichen und der Polizei, die mit Steinwürfen und Feuerwerksgranaten attackiert wurde. Die zumeist 14-18-Jährigen haben vielerorts Polizeireviere angegriffen, Schulen verwüstet, Supermärkte geplündert und angezündet sowie mehrere hundert Autos in Brand gesteckt. Oft wurde dann die Feuerwehr mit Steinwürfen empfangen und an der Arbeit gehindert. Nach Angaben des Innenministeriums wurden bis Freitagmorgen landesweit 450 Personen festgenommen.
Am Donnerstagnachmittag hatte in Nanterre ein »Weißer Marsch« zum Gedenken an Nahel M. stattgefunden. Dazu hatte seine Mutter aufgerufen, die auf einem weißen Lkw den Marsch anführte. An ihrer Seite fuhren zahlreiche bekannte Aktivisten des Kampfes gegen Polizeigewalt. Während gewöhnlich bei solchen »Weißen Märschen« die Familien der Opfer zu Gewaltlosigkeit mahnen, rief die Mutter von Nahel zur »Revolte« auf. Viele Demonstranten hielten Plakate hoch mit der Losung: »Die Polizei tötet. Gerechtigkeit für Nahel.«
Einige Demonstrationsteilnehmer griffen das auf und gingen noch weiter, indem sie »Rache für Nahel« forderten. »Hier kommt zum Ausdruck, daß immer mehr Menschen genug haben von den tagtäglichen Schikanen und Erniedrigungen«, sagte der Filmregisseur Mathieu Kassovitz, der zu den Teilnehmern des Marsches gehörte. »Ohne Gerechtigkeit wird es keinen sozialen Frieden und damit auch keine Ruhe in der Gesellschaft geben.«
Von den mehr als 6.000 Teilnehmern des Marsches waren nach Angaben der Polizei rund 1.000 junge Männer, die die Konfrontation mit der Polizei suchten und nach der Auflösung des Zuges vor der Präfektur von Nanterre Autos, Mülltonnen und ein kleines Karussel anzündeten. Die Polizei reagierte mit Tränengas und der Verhaftung einzelner Personen. Die Unruhen in Nanterre zogen sich noch bis in die späten Abendstunden hin.
All die gewalttätigen Unruhen sind Reaktionen auf den Tod des 17-jährigen Autofahrers Nahel M., der am Dienstagmorgen in Nanterre bei Paris nach einer Verfolgungsjagd von einer Polizeipatrouille zunächst gestoppt und dann aus nächster Nähe erschossen wurde, als er sich der Personenkontrolle durch Flucht entziehen wollte. Die beiden Polizisten hatten zunächst erklärt, sie hätten sich »in einer Notwehrsituation« befunden und es habe die Gefahr bestanden, daß sie überfahren werden. Doch aus Videoaufnahmen von Straßenüberwachungskameras und von Zeugen, die vor Ort gefilmt haben, war ersichtlich, daß die Polizisten gelogen haben.
Beide standen seitlich von dem sich wieder in Bewegung setzenden Auto und einer von ihnen gab die Schüsse sofort und ohne Not ab. Das Auto setzte seine Fahrt noch etwa 50 Meter fort und prallte dann gegen einen Mast. Der Fahrer war sofort tot und von den zwei Passagieren konnte einer entkommen und der zweite wurde verhaftet. Der Todesschütze wurde von der als »Polizei der Polizei« bezeichneten Sonderabteilung des Innenministeriums in Haft genommen. Inzwischen wurde gegen ihn ein juristisches Verfahren wegen des Verdachts auf Totschlag eingeleitet, da sich – wie der Staatsanwalt am Donnerstagnachmittag vor der Presse erklärte –, gezeigt hat, daß »nicht die gesetzlichen Voraussetzungen für den Schußwaffengebrauch gegeben waren«.
Entsprechend sind diesmal auch die rechten Gewerkschaften und Innenminister Gérald Darmanin, die sich gewöhnlich schützend vor die Polizei stellen, wenn ihr unangemessene Gewalt vorgeworfen wird, bemerkenswert kleinlaut. Der Minister zeigte sich sogar »schockiert« von den Videoaufnahmen.
Dieser neuerliche Fall unangemessener Polizeigewalt mit Todesfolgen hat schnell innenpolitische Dimensionen angenommen. Scharfe Kritik kommt nicht nur von der linken Opposition, sondern auch Politiker des Regierungslagers gehen auf Distanz zur Polizei. Präsident Emmanuel Macron sagte: »Nichts rechtfertigt, daß ein junger Mensch sterben muß.« Premierministerin Elisabeth Borne erklärte, hier liege »offenbar ein Fehlverhalten der Polizei« vor. Dafür wurden beide umgehend von Marine Le Pen scharf angegriffen, die diese Stellungnahmen »unverantwortlich« nannte. Sie erklärte, die Sozialwohnviertel der Vororte seien »Zonen ohne Recht und Gesetz«, in die sich die Polizei nicht mehr hineintraue und wo Drogendealer und kriminelle Jugendbanden straflos herrschen.
Die sich aus den Todesschüssen vom Dienstag ergebende Situation erinnert an den Herbst 2005, als nach dem Tod von zwei Jugendlichen, die sich auf der Flucht vor der Polizei in einem Transformator verstecken wollten und dabei ums Leben kamen. In der Folge brannten wochenlang Nacht für Nacht in der Pariser Region und in anderen Städten des Landes Autos und kam es zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Jugendlichen und der Polizei. Doch seitdem hat sich wenig an der sozial brisanten Situation in den Vorstädten verändert, stellt die linke Opposition fest.
Um weiteren Unruhen vorzubeugen, wurde entschieden, in der gesamten Pariser Region für die nächsten Tage den Autobus- und Straßenbahnverkehr ab 21 Uhr einzustellen. Der Bürgermeister der Pariser Vorstadt Clamart verhängte sogar bis über das Wochenende eine nächtliche Ausgangssperre zwischen 23 und 6 Uhr.
Die Regierung lehnte es jedoch ab, den Ausnahmezustand auszurufen, wie das vom Parteivorsitzenden der rechtsoppositionellen Republikaner, Eric Ciotti, und von einigen Bürgermeistern von Städten gefordert wurde, wo es besonders gewalttätige Unruhen mit schweren Folgen gab. Premierministerin Elisabeth Borne erklärte am Donnerstag: »Der Tod des jungen Nahel ist ein Drama, und ich verstehe die Emotionen, die sein Schicksal auslöst. Aber nichts rechtfertigt Gewalttaten, wie wir sie in den vergangenen Nächten erlebt haben.«