Leitartikel28. September 2024

Armut ist keine Naturerscheinung

von Ali Ruckert

Menschen, die zu verarmen drohen, dürften nicht übersehen werden, mahnte Papst Franziskus am Donnerstag während seines achtstündigen Aufenthalts in Luxemburg. Ob seine Berater ihn vorab davon in Kenntnis gesetzt hatten, dass im reichen Luxemburg mehr als 120.000 Menschen (18 Prozent der Bevölkerung) arm oder von Armut bedroht sind? In dem Anfang der Woche vom nationalen Institut für Statistik und Wirtschaftsstudien Statec veröffentlichten Bericht »Arbeit und sozialer Zusammenhalt« heißt es, 24 Prozent der Kinder seien von Armut bedroht.

Besonders krass ist, dass jeder 10. Lohnabhängige arm ist, obwohl er einer geregelten Arbeit nachgeht, und dass fast jeder zweite Alleinerziehende von Armut betroffen ist.

Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Studien über die Armut im Großherzogtum, und es ist bis in alle Einzelheiten bekannt, welche Bevölkerungsschichten am meisten von Armut betroffen sind. Im Gegensatz dazu gibt es kaum Untersuchungen über den oft unverschämten Reichtum von Privatpersonen und Kapitalvertretern hierzulande und darüber, woher dieser Reichtum kommt.

So viel steht immerhin fest und gilt nicht nur für Luxemburg: Armut und Reichtum gehen zusammen, und dort, wo es Reiche gibt, gibt es aus Erfahrung noch viel mehr Arme.

Würde man sie dazu befragen, würde die ganz große Mehrheit der Menschen hierzulande wohl spontan antworten, den Armen müsse geholfen werden, wie das seit einer Ewigkeit Caritas und andere Wohlfahrtsorganisationen tun. Die Erkenntnis, dass es zu einer Umverteilung des Reichtums kommen muss, und es erfordert ist, den Reichen etwas wegzunehmen, um es den Armen zu geben, ist hingegen deutlich weniger verbreitet.

Fakt ist, dass unabhängig von den Maßnahmen, welche die seit zwanzig Jahren aufeinanderfolgenden Regierungen sich im Bereich der Armutsbekämpfung auf die Fahne schrieben, der Anteil der Menschen im Land, die von Armut bedroht werden, immer weiter anwuchs und die Gesamtzahl der Armen immer größer wurde in einem der reichsten Länder der Welt.

Nun ist es kein Geheimnis, dass Armut keine Naturerscheinung ist und hierzulande auch nicht die Folge von Naturkatastrophen, sondern von politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen.

Ganz gewiss wäre der materiellen Armut innerhalb eines nicht allzu langen Zeitabschnitts beizukommen, wurden die staatlichen Zulagen im Sozialbereich aufgestockt, der Mindestlohn und die Mindestrente deutlich strukturell erhöht (man erinnert sich: niedrige Löhne haben immer Hungerrenten zur Folge!), die Mieten durch Gesetz gedeckelt und genügend bezahlbare Mietwohnungen gebaut, wie das etwa die KPL fordert.

Wenig hilfreich und ohne praktische Folgen ist da, wenn man die Reichen ermahnt, dass Reichtum verpflichtet, denn die kapitalistische Ellenbogengesellschaft, in der sie die Macht ausüben, dient ihnen ausschließlich dazu, ihre Privilegien und Profite abzusichern. Armut gehört zu den »Kollateralschäden«, welche bestenfalls durch gewisse staatliche Transferleistungen und eine karitative Almosenpolitik soweit einzuschränken ist, dass es nicht zu Entwicklungen kommt, die dazu führen könnten, dass die Besitzer von Konzernen, Banken und riesiger Vermögen eben diese Privilegien verlieren würden.

Das aber wäre die Voraussetzung dafür, dass die ungerechten Besitzverhältnisse in der Wirtschaft und die gesellschaftlichen Mechanismen, welche die Armut und die Ungleichheiten immer wieder reproduzieren, außer Kraft gesetzt werden könnten, und eine umfassende und gerechte Umverteilung möglich wird.