Ausland26. November 2024

»Tel Aviv für Beirut«

Hisbollah reagiert auf israelische Angriffe auf Wohnviertel in Beirut

von Karin Leukefeld, Beirut

In der Nacht zu Montag wurde die libanesische Hauptstadt Beirut erneut von Israel angegriffen. Die »Angriffswellen« zielten auf die südlichen Vororte von Beirut, wo – nach israelischen Armeeangaben – angeblich zwölf Kommandozentralen der Hisbollah – zerstört worden seien. Die libanesische Nachrichtenagentur NNA berichtete von Angriffen in den Stadtteilen Haret Hreik, Bir al-Abed, Ghobeiri und Kaafat, die Zahl der Toten war am Montagmorgen noch unklar. Den Berichten zufolge zerstörten Raketen von israelischen Drohnen und Kampfjets auch Wohnblocks in den Stadtteilen Hadath und Burj al-Barajneh.

Wie fast täglich hatte ein Arabisch sprechender Sprecher der israelischen Streitkräfte über »X« kurz zuvor die dort lebende Bevölkerung aufgefordert, die Viertel Hadath und Burj al-Barajneh »zu räumen«, da die israelische Armee dort »Hisbollah-Einrichtungen und Interessen« angreifen werde. Die Drohung wurde von Karten untermauert, auf denen die Gebiete markiert waren, die angegriffen würden. Später wurde die Räumungsaufforderung auf weitere Stadtviertel erweitert.

Der israelische Armeesprecher erwähnte die großen Zerstörungen im Süden von Beirut, die israelische Angriffe seit Wochen verursacht haben. Sie seien »eine Antwort auf die Zerstörungen, die die Hisbollah in Israel« anrichte. Am Sonntag hatte die Hisbollah zahlreiche Angriffe auf israelische Armeeeinrichtungen in Tel Aviv und Ashdod geführt. Israelische Medien berichteten über starke Explosionen im Großraum Tel Aviv, wo zehn Raketen aus dem Libanon eingeschlagen seien.

Die Hisbollah veröffentlichte dazu 51 Erklärungen, in denen jeweils die Ziele, die Uhrzeit der Angriffe und die eingesetzten Waffen aufgelistet wurden. Die Angriffe seien eine Antwort auf »die anhaltende israelische Aggression gegen Beirut«, hieß es in einer Erklärung, die im libanesischen Nachrichtensender »Al Manar« veröffentlicht wurde, der der Hisbollah nahesteht. Die Angriffe folgten dem »strategischen Gleichgewicht«, das die Hisbollah gegen israelische Angriffe ausführe. Wenn Beirut angegriffen werde, greife die Hisbollah Tel Aviv an, hatte Naim Qassem, der Generalsekretär der Hisbollah, vor wenigen Tagen angekündigt.

Die massiven Angriffe auf Tel Aviv und andere Teile Israels seien die Antwort auf Angriffe Israels auf zivile Wohnblocks in Al Basta, einem Stadtteil von Beirut. Bei den schweren Angriffen am vergangenen Freitag waren sogenannte »bunkerbrechende« Bomben eingesetzt worden. 22 Zivilisten wurden allein bei einem Angriff getötet, und Dutzende Anwohner wurden verletzt.

Israel hatte die Angriffe mit der Behauptung begründet, daß sich Hisbollah-Kommandeure in den Gebäuden befunden hätten. Die Darstellung wurde von der Hisbollah dementiert. Amin Sherri, ein Abgeordneter der Partei im libanesischen Parlament, erklärte am Ort der Angriffe, es habe sich weder ein Militärangehöriger der Hisbollah noch ein Politiker irgendeiner Partei in den Gebäuden befunden. Es sei der 8. Angriff dieser Art auf Beirut mit »bunkerbrechenden« Bomben gewesen und bei keinem der Angriffe seien militärische Ziele, sondern ausschließlich die Zivilbevölkerung getroffen worden.

Waffenstillstands-Verhandlungen unklar

Zu einem Blitzbesuch hielt sich Josep Borrell, der noch amtierende EU-Außenbeauftragte am Montag in Beirut auf. Wie er auf »X« mitteilte, sei er mit dem Oberkommandierenden der libanesischen Streitkräfte, General Joseph Aoun, zusammengetroffen und habe über eine im Südlibanon angestrebte Pufferzone gesprochen. Er habe auch den amtierenden Ministerpräsidenten Najib Mikati und Parlamentspräsident Nabi Berri getroffen, berichtete Borrell. Dabei sei die Wahl eines libanesischen Präsidenten und »die Waffenstillstandsverhandlungen« thematisiert worden. Der »Druck auf Hisbollah und Israel müsse erhöht werden«, um den von den USA vorgelegten Waffenstillstandsplan umzusetzen, erklärte der für die Außenpolitik der EU zuständige Kommissar.

Amoz Hochstein, Sondervermittler von USA-Präsident Joe Biden für einen Waffenstillstand zwischen Libanon und Israel, war am Wochenende aus Tel Aviv abgereist, ohne seine Vermittlungsversuche in Beirut fortzusetzen. Nach Gesprächen mit dem libanesischen Parlamentssprecher Nabih Berri, der sich mit der Hisbollah abspricht und für diese mitverhandelt, war Hochstein nach Tel Aviv gereist, um zu versuchen, »diese Sache zu einem Ende zu bringen, wenn wir können«, hieß es. Laut israelischen Medien traf Hochstein mit Kriegsminister Israel Katz und dem Oberkommandierenden der Israelischen Streitkräfte, General Herzi Halevi, zusammen. Anschließend sprach Hochstein mit Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, bevor er in die USA zurückflog.

Inhaltlich war über die Gespräche in Tel Aviv nichts zu erfahren. »i24«, ein privater internationaler Satellitensender, der in Arabisch, Englisch und Französisch ausgestrahlt wird, seinen Sitz in Tel Aviv hat und einem französischen Geschäftsmann gehört, schmückte den kurzen Begleittext zum Foto der Hände schüttelnden Hochstein und Netanjahu mit der Nachricht: »Während aus dem Libanon weiter geschossen wird und die israelischen Angriffe auf Dakhieh anhalten, hat das Netanjahu-Hochstein-Treffen begonnen«.

Einzelheiten über den in Beirut und Tel Aviv verhandelten Text über ein Waffenstillstandsabkommen zwischen Libanon und Israel bleiben vage. Israel fordert weiter das »Recht«, überall und jederzeit im Libanon angreifen zu können, was der Libanon selbstverständlich zurückweist. Einig scheint man sich dagegen über die Umsetzung der Resolution 1701 des UNO-Sicherheitsrates, laut der sich Israel aus dem Libanon zurückziehen muß und die »Blaue Linie«, die von der UNO-Truppe UNIFIL bewachte Waffenstillstandslinie zwischen dem Libanon und Nordisrael – im Libanon spricht man von »Nordpalästina« – zukünftig gemeinsam von der libanesischen Armee und der UNIFIL, der UNO-Friedensmission für den Libanon, kontrolliert werden soll.

Israel und seine Partner in den USA und in der EU fordern eine militärische Überwachung, die von Deutschland und Britannien an sämtlichen Außengrenzen des Libanon durchgeführt werden könnte. Laut bisher vorliegenden Berichten lehnt nicht nur die Hisbollah das Ansinnen ab. Im Libanon spricht man von einer Verletzung der libanesischen staatlichen Souveränität.

Resolution 1701

Die Resolution 1701 des UNO-Sicherheitsrates hatte im Jahr 2006 den damaligen Krieg zwischen der Hisbollah und Israel beendet und sieht vor, daß die militärischen Verbände der Hisbollah sich hinter den Fluß Litani zurückziehen müssen – der Fluß befindet sich rund 30 Kilometer nördlich der »Blauen Linie«. Ziel ist es, nördlich der Waffenstillstandslinie eine »Pufferzone« zu schaffen. Es ist allerdings unklar, wie der Libanon vor einer erneuten israelischen Invasion geschützt werden soll. Die libanesische Armee wird zwar von den USA und anderen westlichen Ländern und einigen arabischen Golfstaaten unterstützt, gleichzeitig achten die USA akribisch darauf, daß die libanesischen Streitkräfte weder über Luftabwehrgeschütze noch über Raketen oder Drohnen verfügen, mit denen sie militärisch die Waffenstillstandslinie schützen könnten.

Der Libanon kritisiert, daß Israel die Resolution 1701 permanent verletzt und hat zahlreiche Beschwerden beim UNO-Sicherheitsrat vorgelegt. Israelische Kampfflugzeuge überfliegen ungehindert libanesischen Luftraum, und Kriegsschiffe Israels kreuzen in libanesischen Gewässern. Israel überwacht die Telefon- und Internetkommunikation des Nachbarlandes, auch um die Bewohner einzuschüchtern und Journalisten und Aktivisten auszuspionieren.

Beirut unter Drohnen

Während der zwei Tage, die Amos Hochstein sich in der vergangenen Woche in Beirut aufhielt, herrschte Ruhe über der Stadt. Keine der rund 30 Überwachungsdrohnen, die jeden Winkel Beiruts beobachten, Straßen, Parks und Häuser scannen und nach »Hisbollah-Stellungen« absuchen, war im Einsatz. Kein Angriff der israelischen Streitkräfte oder Drohnen erschütterte die Stadt.

Kurz vor der Ankunft von Hochstein war am Dienstag eine Militärbasis der libanesischen Armee in der Stadt Sarafand, südlich von Saida angegriffen worden, drei Soldaten wurden getötet. Und kaum war Hochstein am Donnerstag abgereist, verbreitete die israelische Armee ihre zynischen »Evakuierungsaufforderungen« einschließlich der rot markierten Gebäude, die innerhalb von 30 Minuten »geräumt« werden müßten, um dann zerstört zu werden. Bei den Angriffen im Süden von Beirut (Dakhieh) und zunehmend auch im Zentrum der Stadt, werden ausschließlich Wohn- und Geschäftshäuser zerstört. Unweit des Parlaments an der Straße Zokat al-Blat traf es ein Gebäude, in und neben dem Hilfsgüter für Inlandsvertriebene gelagert waren. Getroffen wurde neben einem Lebensmittelladen auch das Büro des lokalen Bürgermeisters Mukhtar, bei dem die Bewohner des Stadtviertels sich anmelden und ihre Papiere beantragen. Er wurde getötet. Die Unterlagen und Anträge lagen zwischen Trümmern zerstört.

Nach offiziellen Angaben wurden im Libanon mehr als 3.500 Menschen bei israelischen Angriffen getötet und mehr 15.000 Menschen wurden verletzt. Die Zahl der verletzten und getöteten Hisbollah-Kämpfer ist unklar. Mehr als 1 Million Menschen wurde vertrieben. Der wirtschaftliche Schaden durch die israelischen Angriffe wird von der Weltbank auf 8,5 Milliarden US-Dollar geschätzt.

Im Süden des Libanon halten die heftigen Kämpfe zwischen der Hisbollah und der israelischen Armee an. Laut ersten Schätzungen wurden an der »ersten Frontlinie« gegen Israel 37 Dörfer und 40.000 Häuser ganz oder teilweise bei israelischen Angriffen zerstört. Keine der wichtigen Städte in diesem Gebiet – Naqoura, Bint Jbeil oder Khiam – konnte von Israel besetzt werden. Seit mehr als zwei Monaten versuchen rund 50.000 israelische Soldaten verschiedener Einheiten und von Spezialkräften wie der »Golani Brigade«, Land im Süden zu besetzen, konnten dabei allerdings kaum weiter als einen Kilometer vordringen. Orte, die weiter auf libanesischem Territorium liegen und besetzt wurden, konnten nicht gehalten werden.

Nach offiziellen Armeeangaben ist die Zahl der getöteten israelischen Soldaten seit Oktober 2023 bei den Angriffen auf Gaza und im Libanon auf 803 gestiegen.