Leitartikel15. Dezember 2022

Menschenrechtliche Selektivität

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Am Samstag war wieder Tag der Menschenrechte. Während das korruptionsgeplagte EU-Parlament den Jahrestag der Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Generalversammlung der UNO zum Anlaß nahm, dem »ukrainischen Volk« seinen 1988 noch im Kampf gegen die Sowjetunion gestifteten »Sacharow-Preis« zu verleihen, erinnerte der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, immerhin daran, daß in den westlichen Konzernmedien seit Februar 2022 ausführlich über den – jedoch schon seit Februar 2014 tobenden – Krieg in der Ukraine berichtet wird, andere Krisen jedoch in Vergessenheit gerieten.

Zu den »vergessenen Krisen« zählt Türk, der erst kürzlich von einer Reise in die Ukraine zurückgekehrt ist, unter anderem die Lage in Haiti, im Jemen, in Afghanistan, Mosambik und Somalia. Leider erwähnte der Österreicher nicht, wer von den »vergessenen« Krisen und jenen, die täglich ins Bewußtsein gebracht werden, profitiert. Auch die völlig unterschiedliche Spendenbereitschaft der medial aufgehetzten Bewohner der NATO- und EU-Staaten erwähnte der Menschenrechtskommissar nicht.

Jedoch erklärte Catherine Russell, die Direktorin des UNO-Kinderhilfswerks, Anfang dieser Woche, UNICEF benötige dringend 484,4 Millionen US-Dollar (rund 455 Millionen Euro), um auf die Krise im Jemen – die laut UNO »größte humanitäre Katastrophe der Gegenwart« – zumindest »ansatzweise angemessen reagieren zu können«.

Zum Vergleich: Der Ukraine hat allein die EU gerade weitere 18 Milliarden Euro an Finanzhilfen für das kommende Jahr in Aussicht gestellt. Ein Veto Ungarns konnte umgangen werden, indem sich die Mitgliedstaaten großzügig bereiterklärt haben, die benötigten Mittel aus ihren nationalen Staatsbudgets für 2023 bereitzustellen. Damit übersteigt allein die seit dem Maidan-Putsch im Februar 2014 von der EU geleistete Finanzhilfe für die Ukraine die Grenze von 100 Milliarden Euro. Das ist mehr als das Zweihundertfache dessen, was UNICEF für den Jemen erbeten hat.

Im ärmsten Land auf der Arabischen Halbinsel wurden seit dem Kriegseintritt der von Saudi-Arabien und (bis 2019) den Vereinigten Arabischen Emiraten angeführten Kriegskoalition im Frühjahr 2015 mehr als 11.000 Kinder getötet, verstümmelt oder verletzt. »Die tatsächliche Zahl der Opfer dieses Konflikts ist wahrscheinlich weitaus höher«, teilte UNICEF am Dienstag mit. Tausende Kinder hätten ihr Leben verloren, Hunderttausende seien unmittelbar vom Tod durch vermeidbare Krankheiten oder Hunger bedroht, heißt es in der Schreckensbilanz. Etwa 2,2 Millionen jemenitische Kinder seien akut unterernährt, jedes vierte dieser Kinder sei noch keine fünf Jahre alt, und die meisten seien von Epidemien wie Cholera, Masern und anderen durch eine Impfung vermeidbaren Krankheiten bedroht.

Zu den bislang mehr als 400.000 Todesopfern des von den westlichen Konzernmedien totgeschwiegenen Jemen-Krieges zählen immer mehr Opfer der Blockade des Landes durch die von den USA hochgerüstete und bis heute mit modernster Kriegstechnik belieferte Kriegskoalition der Golfdiktaturen. Wegen dieser Blockade befinden sich 1,3 Millionen schwangere und stillende Frauen in einem gefährlichen Zustand der Unterernährung. Wegen des Mangels an Nahrung und ärztlicher Versorgung stirbt alle zwei Stunden eine jemenitische Frau während der Geburt.

Das Beispiel Jemen zeigt, wie selektiv die EU mit Menschenrechten umgeht. Für Menschen im Jemen gilt das grundlegende Menschenrecht auf Leben offenbar ebensowenig wie für ertrinkende Flüchtlinge im Mittelmeer oder für die Menschen, die Brüssel in den Wäldern an der EU-Ostgrenze erfrieren läßt.