Leitartikel03. Juli 2024

»Sozialer Fortschritt« auf Griechisch

von Uli Brockmeyer

Griechenland ist ein Land voller Ruinen. Wer aufmerksam durch das Land reist, erkennt alle paar Kilometer Hinweise auf Überbleibsel einer mehrere tausend Jahre alten Vergangenheit. Es sind vor allem historische Stätten wie Olympia, Epidavros, Mykene oder die Athener Akropolis, die heute noch ein beredtes Zeugnis ablegen von der Kultur und Baukunst der alten Hellenen, jener Menschen, denen wir den Begriff »Demokratie« zu verdanken haben.

Griechenland ist ein Land voller Ruinen. Wer aufmerksam durch das Land reist, erkennt alle paar Kilometer eine »Invest-Ruine« – Zeugnisse eines vermeintlichen Baubooms von vor rund 20 Jahren, als viele Griechen und auch ausländische Investoren begannen, Ferienhäuser, Privatvillen oder auch Geschäfte zu errichten. Mit der Finanzkrise, die 2008 ihren Anfang nahm, gingen sehr vielen Bauherren einfach die Gelder aus, sie konnten ihre Kredite nicht mehr bedienen. So stehen nun überall Skelette von geplanten Gebäuden, für deren Abriß oder Weiterbau ebenfalls das Geld fehlt.

Die Finanzkrise, ein besonders deutlicher Ausdruck der andauernden Krise des Kapitalismus, die ab 2010 die sogenannten PIIGS-Staaten – Portugal, Italien, Irland, Griechenland und Spanien – besonders hart traf, war eine treffliche Gelegenheit, den Rotstift in öffentlichen Haushalten der Länder umfassend agieren zu lassen. Unter der Aufsicht der sogenannten Troika aus Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und EU-Kommission wurden vor allem in Griechenland öffentliche Dienste und soziale Leistungen des Staates brutal zusammengestrichen, staatliches Eigentum an ausländische Interessenten verhökert. Das Gesundheitswesen und die öffentliche Bildung leiden noch heute unter den Auflagen der »Troika«, und auch die jährlich wütenden Waldbrände können oft nicht effektiv bekämpft werden, weil Personal als auch Geräte fehlen.

Nun kommt eine weitere Ruine hinzu: das Arbeitsrecht. Seit Beginn dieser Woche gibt es in Griechenland eine Sechs-Tage-Woche. Seit dem 1. Juli können Unternehmen davon Gebrauch machen, nach offizieller Lesart soll diese »Neuerung« auf freiwilliger Grundlage beruhen. Mitarbeitern von Unternehmen werden »attraktive Anreize« in Form von zusätzlicher Entlohnung geboten.

Allerdings können Unternehmen, in denen es keine wirksame gewerkschaftliche Vertretung gibt, ihre Leute einfach anweisen, zusätzlich zu arbeiten. Eine staatliche Kontrolle ist nicht zu erwarten. Das griechische Steuersystem macht es zudem möglich, daß die zusätzliche Entlohnung durch eine höhere steuerliche Einstufung zum großen Teil »aufgefressen« wird, und vor allem der Fiskus daran verdient. Neue Arbeitsplätze werden damit nicht geschaffen. Viele Griechen arbeiten heute in zwei oder gar drei Jobs, um angesichts der hohen Preise – allein das Grundnahrungsmittel Olivenöl ist seit dem vergangenen Jahr um 50 Prozent teurer geworden – ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Junge Menschen mit guter Ausbildung werden nicht davon abgehalten, weiterhin zu Tausenden das Land zu verlassen. Viele Gründe für die Abgeordneten der Kommunisten und vieler weiterer Vertreter der Opposition im Parlament, gegen die Gesetzesänderung zu stimmen.

Im übrigen steht diese Maßnahme auch gegen geltendes EU-Recht. Es ist allerdings kaum zu erwarten, daß die neue EU-Kommission gegen die konservative, stramm EU-freundliche Regierung in Athen deshalb Maßnahmen einleiten wird.