Nach der Krise ist vor der Krise
Es war nur für kurze Zeit, daß die EU und die Regierungen ihrer tonangebenden Mitgliedstaaten in der globalen Finanz- und der lokalen Eurokrise eine striktere Regulierung der Finanzmärkte auf ihre Fahnen schrieben. Die Rede war nicht nur von gemeinsamer Haftung, insbesondere durch die »Bankenunion«, sondern auch von strengeren Eigenkapitalvorschriften, einem Trennbankensystem, einer Finanztransaktionssteuer und sogar einer Verstaatlichung von Banken, die als »too big to fail« (zu groß zum Scheitern) gelten.
Doch passiert ist nichts. Und spätestens seit dem Ende Januar 2020 erfolgten britischen EU-Austritt stehen die Zeichen wieder auf Deregulierung. Sein Übriges zum schnellen Revival des radikalen Kapitalisierungs- und Liberalisierungskurses tat Emmanuel Macron, der Multimillionär und ehemalige Investmentbanker des Geldhauses Rothschild an der Spitze des französischen Staates.
Dabei ist der Bankensektor EU-Europas seit der Eurokrise desolater, angreifbarer und gefährlicher geworden. Die Summe finanzieller Vermögenswerte, die das System anheizen, übersteigt die addierte Wirtschaftsleistung der Eurozone mittlerweile um fast das Achthundertfache. Am Anfang der Finanzkrise 2008ff. lag das Verhältnis bei knapp über Fünfhundert.
Doch die Schuldenstände der Länder mit der Einheitswährung sind in der Coronakrise in die Höhe geschnellt, die bis dato heiligen Defizitregeln wurden erst ausgesetzt und dann in diesem Frühjahr reformiert. Dann nahm die Deindustrialisierung der EU unter dem Druck hoher Energiepreise und anderer Kriegskosten an Fahrt auf und auch die Prognosen von Eurostat, Statec und Co. sind nach wie vor düster. Kein Wunder, daß das Volumen »notleidender Kredite« (Darlehen, bei dem der Schuldner mit dem Schuldendienst in Rückstand gerät) mittlerweile den 2016 in der Eurokrise erreichten Höchstwert um fast die Hälfte übersteigt.
Die Weichen für die nächste Bankenkrise sind also gestellt. Der nur vorübergehend beschworene Lerneffekt aus der letzten Runde ist – mal wieder! – ausgeblieben. Stattdessen werden die letzten regulatorischen Hürden und Abwehrmechanismen weiter abgebaut. War einst davon die Rede, daß durch den Brexit mehr Finanzregulierung möglich werde, trat tatsächlich das Gegenteil ein.
Längst ist aus Brüssel nichts mehr von einem Ausbau der Bankenregulierung zu hören. Im Gegenteil wird schon seit 2015 die Kapitalmarktunion im Namen der globalen Wettbewerbsfähigkeit vorangetrieben, die die letzten Hürden für das Finanzkapital über die Grenzen Eurolands hinweg abbauen soll. Das gilt auch für die toxischen Kreditverbriefungen, die 2007 am Anfang der großen Krise standen. So wird es immer wahrscheinlicher, daß sich Euroland nicht wie damals erst aus den USA anstecken lassen muß, sondern selbst zum Epizentrum der Krise taugt.
Entsprechend drastischer drohen die Folgen zu werden: Bei einer Übernahme der deutschen Commerzbank durch die italienische Unicredit würde diese eine Bilanzsumme von rund 1,3 Billionen Euro haben – doppelt so viel wie die US-amerikanische Investmentbank Lehman Brothers 2008 und deutlich mehr als doppelt so viel wie im vergangenen Jahr die Credit Suisse. Der Konkurs von Lehman Brothers löste die globale Finanzkrise aus. Danach wurden weitere Bankenzusammenbrüche durch milliardenschwere Staatshilfen verhindert. So gaben Belgien, Frankreich und Luxemburg dem Finanzkonzern Dexia damals Staatsgarantien von über 90 Milliarden Euro. Das dürfte bei der nächsten Krise nicht reichen.