Britannien schert aus
Neuausrichtung der Außen-, Wirtschafts- und Militärpolitik des Königsreichs
Das ging schnell. Schon die erste große Krise nach dem Brexit erschüttert die Beziehungen zwischen der EU und Britannien schwer. Da erzielt die Tory-Regierung im Kampf gegen die Covid-19-Pandemie nach katastrophalen Anfängen mit einer erfolgreichen Impfkampagne erste Fortschritte – und was geschieht?
Die EU, bemüht, vom eigenen Scheitern abzulenken, drischt wie wild auf ihr Ex-Mitglied ein. Die EU-Kommission verhängt Impfstoff-Exportkontrollen, plant die Überwachung der irisch-nordirischen Grenze gegen Schmuggel von Vakzinen und denkt laut über das Verbot von Impfstofflieferungen in das Vereinigte Königreich nach. Zu allem Überfluß veranlaßt sie eine militärpolizeiliche Durchsuchung in einer Firma, die Impfdosen für ihren neuen Prügelknaben AstraZeneca (Hauptsitz in Cambridge) abfüllt. Gründlicher hätte die EU binnen so kurzer Zeit ihr Verhältnis zu Britannien kaum schädigen können.
Der Impfstoffkonflikt ließe sich als bittere, aber zeitlich wohl begrenzte Episode abtun, hätte die britische Regierung nicht gleichzeitig tiefgreifende außen-, wirtschafts- und militärpolitische Kursänderungen beschlossen. Festgehalten sind sie in dem Mitte März veröffentlichten Strategiepapier »Global Britain in a competitive age«.
Im Kern geht es darum, die durch den Austritt aus der EU neu gewonnene Unabhängigkeit ganz im eigenen nationalen Interesse zu nutzen. Zentralen Stellenwert hat die Orientierung auf die Weltregion, in der die Wirtschaft am schnellsten wächst und in der in Zukunft wohl auch die entscheidenden politischen Machtkämpfe ausgetragen werden: auf Asien rings um China und die Pazifikregion. In London ist die Rede von einer »indo-pazifischen Wende«.
Dabei macht die Tory-Regierung Nägel mit Köpfen. Britannien hat jüngst Freihandelsabkommen unter anderem mit Japan, Singapur und Vietnam geschlossen; es ist um den Beitritt zu CPTPP bemüht, dem Nachfolger des vor Jahren von Trump verschmähten »Trans-Pacific Partnership« (TPP). Den neuen britischen Flugzeugträger »Queen Elizabeth« führt seine erste große Fahrt ab Mai in Richtung Pazifik, unter anderem wohl in das Südchinesische Meer. Die Beziehungen zu wichtigen Verbündeten – zu Indien und Australien etwa – sind dank des Commonwealth ohnehin eng.
Wie sich das nutzen läßt, hat zuletzt AstraZeneca vorgeführt. Dessen Impfstoff wird vom Serum Institute of India in Pune produziert und in viele Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas geliefert. Bei aller Rivalität zu Peking setzt Britannien – laut »Global Britain« – auch darauf, »positive Handels- und Investitionsbeziehungen zu China« zu bewahren. Die Londoner City wünscht Profite aus dem ostasiatischen Finanzgeschäft.
Geht das Konzept auf, dann wird die EU für Britanniens herrschende Klasse tendenziell an Bedeutung verlieren. Neu ist das nicht. Die Handelsströme etwa verschieben sich schon seit Jahren. Erreichte der Anteil der EU-27 an der britischen Ausfuhr (Waren plus Dienstleistungen) im Jahr 2002 noch 54,9 Prozent, so lag er 2019 nur noch bei 42,6 Prozent – eine Entwicklung, die die Brexit-Fraktion seit Beginn in den britischen Eliten antreibt.
Probleme dürfte das auf lange Sicht dem größten Lieferanten des Vereinigten Königreichs einbrocken – der deutschen Industrie. Auch für die deutsche Außenpolitik zeichnen sich Schwierigkeiten ab. Sie setzt eigentlich darauf, das britische Machtpotential – das diplomatische und ökonomische, vor allem aber das militärische – für die EU-Weltpolitik nutzbar zu machen.
Das wird in Ost- und Südosteuropa und am Mittelmeer – dort, wo die EU ihre Heimspiele spielt und zunehmend verliert – mit dem indo-pazifisch gewendeten Britannien nicht einfacher werden. Die deutschen Eliten haben sich mit dem Befeuern des Impfstoffkonflikts langfristig wohl keinen Gefallen getan.