Kultur14. Juni 2024

Gianna Nannini hat entschieden, erst 41 zu sein

von dpa

Die Freiheitsstatue mit einem in den Himmel gereckten Vibrator, ein Lied über Masturbation und späte Mutterschaft – Gianna Nannini liebt die Provokation. Die italienische Rockröhre mit der einprägsamen Reibeisenstimme ist für ihren Kampf gegen Konventionen bekannt. Vor allem in ihrem Heimatland eckte sie damit oft an. Ihre Musik geriet dabei nicht selten in den Hintergrund. Dennoch ist Nannini Italiens Rocksängerin Nummer eins und das Land ist heute wie damals im Nannini-Fieber.

Denn am 14. Juni wird die Liedermacherin 70. In ganz Italien, und auch international, ist Nannini derzeit omnipräsent. Sie hangelt sich von Interview zu Interview, bringt ein neues Album (»Sei nel l'anima«) heraus, ein Netflix-Film über ihre jungen Jahre erscheint – und obendrein geht sie ab November auf große Tournee in Deutschland (u.a. München, Frankfurt, Berlin). Geht das alles noch mit 70? Ja, sagt Nannini im dpa-Interview. Denn sie sei ja erst 1983 wirklich geboren.

»Ich bin Jahrgang 1983. Wenn du das nicht glaubst, ist das dein Pech!«, amüsiert sich Nannini. Nach ihrem Verständnis ist sie also erst 41. 1983 einerseits, weil sie damals nach einer überstandenen schweren persönlichen Krise als neuer Mensch hervorging, andererseits, weil sie sich überhaupt nicht wie 70 fühlt. Nannini macht sich gern über ihr Alter lustig. Und so heißt auch das erste Lied ihres neuen Albums »1983«. »Der Tod kommt ganz sicher, aber das Alter ist nicht festgelegt«, singt sie dort selbstbewußt.

Das Alter ist eine Option, sagt Nannini. Doch der ernste Hintergrund ihrer »Wiedergeburt« 1983 sitzt noch immer tief. 1979 gelang ihr erster großer Erfolg. Nach einem USA-Aufenthalt produzierte sie das Album »California« mit dem zentralen Song »America«. Auf dem Cover ist die New Yorker Freiheitsstatue abgebildet – statt Fackel hält sie jedoch einen Vibrator in die Höhe. Und in »America« geht es um weibliche Selbstbefriedigung. Im konservativen Italien ein Skandal. Doch der Song wurde europaweit ein großer Hit und macht die Sängerin zum Star. 1982 folgte »Latin Lover«, ein Song, der auch in der BRD viele begeisterte.

Unter dem Druck ihres jungen Erfolgs brach Nannini 1983 jedoch zusammen. »Ich hatte ein großes Problem mit der mentalen Identifikation mit mir selbst, ich habe mich beim Schreiben der Stücke verloren, ich konnte mich nicht mehr finden, es war eine schreckliche Sache.« Sie habe sich damals verloren und den Wahnsinn erlebt, sagt sie. All das spielte sich in einem Tonstudio in Westdeutschland ab, als sie mit dem Produzenten Conny Plank zusammenarbeitete.

Sie konnte sich wieder fangen – und fühlte sich wie wiedergeboren, sagt sie. Ein Jahr später folgte ihr Song »Fotoromanza«, der 1984 Italiens Sommerhit wurde. Die Durststrecke war gebrochen: Mit ihren Liedern »Bello e impossibile«, »I maschi«, »Hey bionda« und der von Giorgio Moroder komponierten Hymne der Fußball-WM 1990 in Italien »Un'estate italiana« begeisterte sie ihre Fans in aller Welt. Mitte der 90er Jahre galt Nannini dann endgültig als eine der ganz großen Rockgrößen.

Seit jeher liebt sie es, zu provozieren. In ihrer Jugend geriet die am 14. Juni 1954 im toskanischen Siena geborene Sängerin deswegen oft mit ihrem konservativen Vater aneinander. Schon früh interessierte sie sich für Musik. Ihr Vater verbat ihr zunächst Gesangsunterricht, gab aber nach. Doch die Spannungen blieben bestehen: Nach dem »California«-Cover wollte er ihr sogar verbieten, ihren Familiennamen zu benutzen.

Die Provokation war und ist immer ein Bestandteil ihres Lebens. Im Sommer 2010 machte sie Schlagzeilen, als bekannt wurde, daß sie mit Mitte 50 erstmals Mutter wird. Ihre späte Mutterschaft sorgte weltweit für großes Aufsehen. Erneut eckte sie damit in ihrem Heimatland an: Einerseits ein Skandal, daß eine Frau so spät schwanger ist, andererseits löste ihr Mutterglück im geburtenschwachen Italien eine Grundsatzdebatte aus.

Konventionen interessieren sie nicht. Nannini spricht schon lange offen über ihre Bisexualität und heiratete 2010 ihre langjährige Partnerin. Einige Zeit lebten sie mit Tochter Penelope in London, inzwischen wieder in Mailand. »Ich bin 1983 geboren, ohne Geschlecht«, singt sie in »1983« weiter. Ohne sexuelles Geschlecht, stellt sie klar. »Ich gehöre keiner Kategorie an.« Neben dem Bruch mit Normen legt sie seit jeher großen Wert auf Unabhängigkeit.

Sosehr sie in all den Jahren auf der Bühne herumwirbelte, auf Gerüste kletterte und immer alles gab, will sie doch ihren Geburtstag nicht feiern. Sie feiere zwar gern, aber lieber die Geburtstage anderer. Außerdem ist die Powerfrau beschäftigt: Demnächst tourt sie wieder kreuz und quer durch Europa. »Ich höre niemals auf!«, sagt Nannini.