Ausland26. Oktober 2023

Eklat im Sicherheitsrat der UNO

Rede von UNO-Generalsekretär António Guterres zur Eröffnung der Sitzung des UNO-Sicherheitsrates am 24. Oktober 2023

von Inoffizielle Übersetzung: ZLV

In der Tagung des Sicherheitsrates der UNO zur Lage im Nahen Osten am Dienstag kam es zu einem Eklat. Die Eröffnungsrede von UNO-Generalsekretär António Guterres stieß auf harsche Kritik des israelischen Botschafters, und Israels Außenminister Eli Cohen sagte daraufhin ein geplantes Treffen mit dem Generalsekretär ab. »Ich werde den UNO-Generalsekretär nicht treffen. Nach dem 7. Oktober gibt es keinen Platz mehr für eine ausgewogene Position«, erklärte er.

Doch nicht die Einschätzung der Lage im Nahen Osten durch den Generalsekretär sind der Skandal, von dem in westlichen Medien die Rede ist, sondern das Verhalten der israelischen Vertreter in New York. Israels Botschafter bei der UNO, Gilad Erdan, verstieg sich sogar zu der Forderung, Generalsekretär Guterres solle zurücktreten.

Im Folgenden veröffentlich die »Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek« die Rede des UNO-Generalsekretärs im vollen Wortlaut:

»Die Lage im Nahen Osten wird von Stunde zu Stunde schlimmer. Der Krieg im Gazastreifen wütet und droht auf die gesamte Region überzugreifen. Spaltungen zersplittern die Gesellschaften. Die Spannungen drohen überzukochen.

In einem entscheidenden Moment wie diesem ist es von entscheidender Bedeutung, daß wir uns über die Grundsätze im Klaren sind - angefangen bei dem grundlegenden Prinzip der Achtung und des Schutzes von Zivilisten.

Ich habe die entsetzlichen und beispiellosen Terrorakte der Hamas vom 7. Oktober in Israel unmißverständlich verurteilt. Nichts kann die vorsätzliche Tötung, Verletzung und Entführung von Zivilisten rechtfertigen - oder den Abschuß von Raketen auf zivile Ziele. Alle Geiseln müssen menschlich behandelt und unverzüglich und ohne Bedingungen freigelassen werden. Ich nehme mit Respekt zur Kenntnis, daß Familienangehörige der Geiseln unter uns weilen.

Es ist auch wichtig zu erkennen, daß die Angriffe der Hamas nicht in einem Vakuum stattgefunden haben. Das palästinensische Volk hat 56 Jahre lang unter einer erdrückenden Besatzung gelitten. Es hat miterlebt, wie sein Land immer mehr von Siedlungen verschlungen und von Gewalt geplagt wurde, wie seine Wirtschaft unterdrückt, seine Menschen vertrieben und seine Häuser zerstört wurden. Ihre Hoffnungen auf eine politische Lösung für ihr Leid haben sich in Luft aufgelöst.

Aber die Beschwerden des palästinensischen Volkes können die schrecklichen Angriffe der Hamas nicht rechtfertigen. Und diese schrecklichen Angriffe können die kollektive Bestrafung des palästinensischen Volkes nicht rechtfertigen.

Auch im Krieg gibt es Regeln. Wir müssen von allen Seiten verlangen, daß sie ihre Verpflichtungen nach dem humanitären Völkerrecht einhalten und respektieren, daß sie bei der Durchführung von Militäroperationen stets darauf achten, die Zivilbevölkerung zu schonen, daß sie Krankenhäuser respektieren und schützen und daß sie die Unverletzlichkeit von UNO-Einrichtungen achten, in denen heute mehr als 600.000 Palästinenser untergebracht sind.

Die unerbittliche Bombardierung des Gazastreifens durch die israelischen Streitkräfte, das Ausmaß der zivilen Opfer und die großflächige Zerstörung von Wohnvierteln nehmen weiter zu und sind zutiefst alarmierend.

Ich trauere um die Dutzenden von UNO-Kollegen, die für das UNRWA arbeiten - leider sind es mindestens 35 -, die in den letzten zwei Wochen bei der Bombardierung des Gazastreifens ums Leben gekommen sind, und gedenke ihrer. Ich schulde ihren Familien meine Verurteilung dieser und vieler anderer ähnlicher Tötungen.

Der Schutz der Zivilbevölkerung ist in jedem bewaffneten Konflikt das oberste Gebot. Der Schutz von Zivilisten darf niemals bedeuten, sie als menschliche Schutzschilde zu benutzen. Der Schutz von Zivilisten bedeutet nicht, mehr als eine Million Menschen zur Evakuierung in den Süden zu zwingen, wo es keine Unterkünfte, keine Nahrungsmittel, kein Wasser, keine Medikamente und keinen Treibstoff gibt, und dann den Süden selbst weiter zu bombardieren.

Ich bin zutiefst besorgt über die eindeutigen Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, die wir in Gaza erleben.

Lassen Sie es mich klar sagen: Keine Seite eines bewaffneten Konflikts steht über dem humanitären Völkerrecht.

Zum Glück kommt endlich etwas humanitäre Hilfe nach Gaza. Aber das ist nur ein Tropfen in einem Ozean der Not. Hinzu kommt, daß unsere UNO-Treibstoffvorräte in Gaza in wenigen Tagen erschöpft sein werden. Das wäre eine weitere Katastrophe. Ohne Treibstoff können keine Hilfsgüter geliefert werden, die Krankenhäuser haben keinen Strom, und das Trinkwasser kann nicht gereinigt oder gar gepumpt werden.

Die Menschen in Gaza brauchen kontinuierliche Hilfslieferungen in einer Höhe, die dem enormen Bedarf entspricht. Diese Hilfe muß ohne Einschränkungen geleistet werden. Ich gratuliere unseren UNO-Kollegen und humanitären Partnern im Gazastreifen, die unter gefährlichen Bedingungen arbeiten und ihr Leben riskieren, um den Bedürftigen Hilfe zu leisten. Sie sind eine Inspiration.

Um das epische Leid zu lindern, die Lieferung von Hilfsgütern einfacher und sicherer zu machen und die Freilassung der Geiseln zu erleichtern, rufe ich erneut zu einer sofortigen humanitären Waffenruhe auf.

Selbst in diesem Moment großer und unmittelbarer Gefahr dürfen wir die einzige realistische Grundlage für einen echten Frieden und Stabilität nicht aus den Augen verlieren: eine Zwei-Staaten-Lösung.

Die Israelis müssen sehen, daß ihr legitimes Sicherheitsbedürfnis erfüllt wird, und die Palästinenser müssen sehen, daß ihre legitimen Bestrebungen nach einem unabhängigen Staat im Einklang mit den Resolutionen der Vereinten Nationen, dem Völkerrecht und früheren Vereinbarungen verwirklicht werden. Schließlich müssen wir uns über den Grundsatz der Wahrung der Menschenwürde im Klaren sein. Polarisierung und Entmenschlichung werden durch einen Tsunami von Desinformationen angeheizt. Wir müssen den Kräften des Antisemitismus, der antimuslimischen Bigotterie und allen Formen des Hasses die Stirn bieten.

Heute ist der Tag der Vereinten Nationen, der 78 Jahre nach Inkrafttreten der UNO-Charta begangen wird. Diese Charta spiegelt unsere gemeinsame Verpflichtung wider, Frieden, nachhaltige Entwicklung und Menschenrechte zu fördern. An diesem Tag der Vereinten Nationen, in dieser kritischen Stunde, appelliere ich an alle, sich vom Abgrund zurückzuziehen, bevor die Gewalt noch mehr Menschenleben fordert und sich noch weiter ausbreitet.«

Quelle: www.un.org/sg/en/content/sg/speeches