Leitartikel12. Oktober 2023

Historische Streikwelle in den USA

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Die USA sind schon lange kein Land mehr, das man mit einer starken Gewerkschaftsbewegung verbindet. Im Gegenteil, in keinem anderen wichtigen kapitalistischen Land ist der Organisationsgrad der Schaffenden im Zuge der neoliberalen Wende des Kapitalismus in den 1970er Jahren so dramatisch gesunken wie dort.

Das hängt paradoxerweise auch mit einem Erfolg der US-amerikanischen Gewerkschaften zusammen: Weil das Tarifsystem weitgehend auf betrieblichen Kollektivverträgen beruht, und die Eigentümer gewerkschaftlich organisierter Betriebe zum Teil deutlich höhere Löhne zahlen müssen als die mit einer unorganisierten Belegschaft, finden Arbeitskämpfe vor allem auf betrieblicher Ebene statt.

Bei den Paketboten des global tätigen Multis UPS reichte kürzlich schon eine Streikdrohung, um die Chefetage zum Abschluß eines für die Schaffenden hervorragenden Kollektivvertrags zu bringen.

Seit Mitte September organisiert die Gewerkschaft United Auto Workers (UAW) Arbeitskämpfe bei den »Big Three« der US-amerikanischen Autoindustrie – Ford, General Motors und Stellantis mit der Marke Chrysler. Die mittlerweile mehr als 15.000 Streikenden fordern 40 Prozent mehr Lohn, eine Angleichung aller Entgelte und Arbeitsplatzsicherheit bei der Umstellung auf Elektrofahrzeuge.

Auch die Drehbuchschreiber in Hollywood setzten mit einem fast fünfmonatigen Streik einen neuen Kollektivvertrag mit den großen Filmstudios durch, der neben höheren Löhnen auch Regelungen für den Einsatz von künstlicher Intelligenz sowie höhere Zuschüsse für die Versorgung im Krankheitsfall und im Alter enthält.

Und am Mittwoch vergangener Woche folgte in den Bundesstaaten Kalifornien, Virginia, Washington, Colorado, Oregon sowie in Washington D.C. ein dreitägiger Streik von 75.000 Beschäftigten des im Gesundheitsbereich tätigen Privatunternehmens Kaiser Permanente. An der größten Arbeitsniederlegung im Gesundheitssektor der USA beteiligten sich Krankenpfleger und Ärzte, Apotheker, Beschäftigte im Notfalldienst und viele weitere Berufsgruppen.

Nachdem sie die Arbeit am Samstag wieder aufgenommen hatten, teilte die den Arbeitskampf führende Gewerkschaftskoalition am Montag mit, wenn es bis Ende dieses Monats keine Einigung auf einen neuen Kollektivvertrag gebe, werde es ab dem »1. November um 6 Uhr morgens« einen zweiten, diesmal einwöchigen Streik bei Kaiser geben.

In der seit mehr als sechs Monaten währenden Tarifauseinandersetzung, in die sich längst Präsident Bidens Arbeitsministerin Julie Su eingeschaltet hat, geht es um eine 25-prozentige Lohnerhöhung für alle und um die Beendigung des Outsourcings, also der Auslagerung von Aufgaben des Gesundheitswesens an Drittfirmen und Subunternehmen, aber es geht nicht zuletzt auch um eine Behebung des chronischen Personalmangels und der hohen Mitarbeiterfluktuation, unter der vor allem die Patienten leiden.

Der Gesundheitssektor stand in den letzten Jahren im strategischen Fokus der US-amerikanischen Gewerkschaftsbewegung. In vielen Bundesstaaten gab es großangelegte »Organizing«-Kampagnen in diesem Bereich. Er wächst besonders schnell und sehr viele Gesundheitsarbeiter sind Frauen, Migranten und Angehörige von Minderheiten. In ehemaligen Industriezentren wie Pittsburgh in Pennsylvania stellt der Gesundheitssektor mittlerweile so etwas wie eine Schlüsselbranche dar. Vor allem hier versuchen die Salariatsvertreter, an gewerkschaftliche Traditionen anzuknüpfen. Es möge gelingen!