In Trümmern unter Bombenbeschuß
Palästinenser im Gazastreifen feiern schwieriges Opferfest. Israels Premier Netanjahu löst Kriegskabinett auf
Auch während des höchsten muslimischen Festes, dem Opferfest Eid al-Adha, das am Sonntag begann, setzt die israelische Armee ihre Angriffe in weiten Teilen des palästinensischen Gazastreifens fort. Ziele waren erneut Flüchtlingslager, Wohnhäuser und Unterkünfte für Vertriebene.
Das Opferfest ist der höchste Feiertag für Muslime in aller Welt und markiert den Beginn der Hadsch, der Pilgerreise nach Mekka. Millionen Muslime sollen diese Reise mindestens einmal im Leben unternehmen, sofern sie finanziell dazu in der Lage und gesund sind. Für Gläubige aus Gaza ist das ein unerreichbares Unterfangen. Fotografen dort verbreiten Bilder betender Menschen in Trümmern. Der Krieg geht weiter.
Die palästinensische Nachrichtenagentur WAFA berichtete von Luftangriffen im Ortsteil Tal as-Sultan, Rafah sowie im Flüchtlingslager Al-Shati, westlich von Gaza-Stadt. In Al-Mughraka, im Innern des Gazastreifens, wurden demnach Wohnhäuser vom israelischen Militär zerstört. Der katarische Nachrichtensender Al Jazeera berichtete, die Angriffe auf das Gebiet von Tal as-Sultan, auch bekannt als das saudische Viertel, erfolgten aus der Luft, vom Meer und mit Artillerie. Dort waren am Vortag acht israelische Soldaten bei einem Angriff der Qassam-Brigaden auf deren Panzerwagen getötet worden. Während westliche Medien sich auf die militärische Seite des Angriffs konzentrierten und das Geschehen analysierten, Namen und Fotos der getöteten israelischen Soldaten verbreitet wurden und Experten in Interviews die militärische Lage für Israel und die Hamas abwogen – wurden mindestens 28 Palästinenser in ihren Wohnungen in Rafah von den israelischen Angriffen getötet. Dutzende Wohnhäuser gingen in Flammen auf. Schon am Vorabend des Eid-Festes bombardierte die israelische Armee viele Gebiete im Südwesten von Gaza-Stadt. Die israelische Marine bombardierte Gebiete in den Wohngebieten von Tal al-Hawa und Sheikh Ajlin. Allein bei der blutigen Befreiungsaktion israelischer Antiterrorkommandos am 8. Juni im Flüchtlingslager Nuseirat, waren 274 Menschen getötet und rund 800 verletzt worden. Nach Angaben des UNO-Büros für Nothilfe (OCHA) wurden vom 10. bis 14. Juni 142 Palästinenser durch israelische Angriffe getötet und 396 verletzt. Die Zahlen basieren auf Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums in Gaza.
Die israelischen Streitkräfte gaben an, bei den Angriffen Kämpfer getötet, Sprengfallen entschärft und Waffendepots zerstört zu haben.
UNO-Experten verurteilen »exzessive Gewalt«
In einer Erklärung haben Menschenrechtsexperten der UNO »die empörende Mißachtung der palästinensischen Zivilbevölkerung während der israelischen Militäroperation in Nuseirat« am 8. Juni verurteilt. Überlebende hätten berichtet, daß »die Straßen von Nuseirat mit den Körpern von toten und verletzten Menschen übersät waren, die in Blutlachen lagen, darunter Kinder und Frauen. Die Wände waren mit Leichenteilen bedeckt, die von vielen Explosionen und zerbombten Häusern verstreut waren.« Die Verletzten hätten in Krankenhäusern auf den Fluren gelegen und auf medizinische Hilfe gewartet, so die UNO-Experten unter Verweis darauf, daß der Gesundheitssektor durch den Krieg weitgehend zerstört worden sei. Man sei zwar »erleichtert über die sichere Rückkehr von vier israelischen Geiseln, (…) doch der israelische Angriff auf das Lager Nuseirat ist durch seine exzessive Gewalt und seine verheerenden Auswirkungen abscheulich.«
Die UNO-Experten begrüßten die jüngste Resolution 2735 des UNO-Sicherheitsrats als »spät«, doch hoffe man, daß sie einen »Weg aus dem Horror« bereiten werde. Sie wiederholten ihren Aufruf, ein Waffenembargo gegen Israel zu verhängen, um die Gewalt gegen Palästinenser durch die israelischen Streitkräfte und Siedler zu stoppen. Bereits Ende Mai hatten 50 UNO-Experten den Sicherheitsrat aufgefordert, Sanktionen und ein Waffenembargo gegen Israel zu verhängen.
Die Zahl der Getöteten steigt täglich
UNO-Organisationen haben seit Beginn der israelischen Militäroperation im Süden des Gazastreifens entlang der Grenze zu Ägypten (6. Mai 2024) eine Million Menschen aus Rafah evakuiert und in Schulen und Zeltlagern im Inneren des Gazastreifens untergebracht. Es herrscht Hunger, die Weltgesundheitsorganisation WHO warnt vor der Ausbreitung ansteckender Krankheiten. Es fehlt Trinkwasser für die Menschen und Benzin, um Pumpen und Ventilatoren zu betreiben. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza ist die Zahl der getöteten Palästinenser seit Beginn des Krieges am 7. Oktober auf 37.337 gestiegen und es gibt 85.299 Verletzte. Unter den Trümmern werden noch mindestens 7.000 Menschen vermißt. Zwei Drittel der Getöteten sind Frauen und Kinder. Die Zahlen sind Momentaufnahmen und steigen täglich.
Die israelische Armee gibt die Zahl der getöteten Soldaten im gleichen Zeitraum in Israel und Gaza mit über 600 an. In Gaza starben demnach 299, die Zahl der Verwundeten im Gazakrieg wird mit 1.940 angegeben. Stand ist der 14. Juni, seitdem sind mindestens acht weitere israelische Soldaten getötet worden.
USA-Pier wieder außer Betrieb
Das Welternährungsprogramm WFP teilte mit, aus Sicherheitsgründen den von den USA und Israel an der Küste von Gaza angebrachten Pier vorübergehend nicht zu nutzen. Die humanitären Organisationen und Helfer seien nicht sicher, wenn sie die Hilfsgüter von dem Pier abholten. Auch das am Strand errichtete Lager sei nicht sicher. Die USA-Marine hat den Pier inzwischen demontiert und in den israelischen Hafen Aschdod geschleppt. Als Grund gab das Zentralkommando der USA-Streitkräfte (CENTCOM), das die Operation leitet, neue Beschädigungen durch hohen Seegang an. Die Sicherheit der beteiligten Soldaten habe »höchste Priorität«, hieß es. Sobald der Seegang sich beruhigt habe, werde der Pier zurückgeschleppt.
Andere Quellen berichteten, der Pier und das Lagerhaus seien unter Beschuß der palästinensischen Seite geraten. Nach der blutigen Befreiung von vier israelischen Geiseln aus dem Flüchtlingslager Nuseirat wurde Israel beschuldigt, den Pier und seine Zufahrten für die Militäroperation benutzt zu haben. Ein Hubschrauber, der die Geiseln abtransportierte, war unweit des Piers am Strand geparkt. Der Vorsitzende der US-amerikanischen Organisation Human Rights Watch, Kenneth Roth, forderte eine internationale Untersuchung. Israel lehnt das ab.
Die Hilfsgüter, die zuletzt über den Pier angelandet worden waren, bleiben aktuell am Strand liegen, teilte eine Pentagonsprecherin mit. Die geschätzten Kosten für die Errichtung des Piers wurden mit rund 230 Millionen US-Dollar (rund 212 Millionen Euro) angegeben.
Begrenzte Feuerpause für Straßenabschnitt
Die israelische Armee hat inzwischen angekündigt, den Grenzübergang Kerem Shalom im Dreiländereck Ägypten-Israel-Palästina/Gaza täglich zu öffnen, damit Hilfsgüter in den Gazastreifen gelangen können. Die freigegebene Route führt von diesem Grenzübergang zum Europäischen Krankenhaus im Nordosten, wo die Hilfsgüter gelagert werden sollen. Die israelische Armee spricht von einer »taktischen begrenzten Feuerpause« für diese Route, die täglich von 7 bis 19 Uhr Ortszeit gelten soll.
Scott Anderson vom UNO-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) äußerte die Hoffnung, daß Helfer sich in dieser Zeit frei bewegen könnten, um »dringend benötigte Hilfe für die Bevölkerung zu bringen« und verteilen zu können. Die Menschen in Gaza bräuchten Essen, Wasser, Medizin und Zelte. Er hoffe, daß alle Seiten sich an die Feuerpause hielten. Sowohl die rechtsextremen Minister seiner Regierung als auch Premier Benjamin Netanjahu selbst lehnen die Feuerpause ab. Sie gilt auch ausdrücklich nicht für Rafah im Süden des Gazastreifens, wo die Angriffe fortgesetzt werden. Die Armee hat angekündigt, das gesamte Gebiet entlang der Grenze Gaza/Ägypten, den »Philadelphia-Korridor«, kontrollieren, also besetzen zu wollen.
Der Grenzübergang Rafah nach Ägypten bleibt geschlossen. Um seiner Position Nachdruck zu verleihen, zerstörte die israelische Armee die Empfangshalle auf der palästinensischen Seite des Grenzübergangs und brannte sie nieder. Ein Reporter berichtete für Al Jazeera aus Gaza, seit 40 Tagen habe der Grenzübergang Rafah unter Beschuß gelegen und sei nun endgültig zerstört. Die israelischen Streitkräfte hinterließen im Osten, im Zentrum und im Westen der Stadt eine Spur der Verwüstung. Wohnhäuser würden systematisch gesprengt.
Neue UNO-Resolution bislang ohne Folgen
Der von USA-Präsident Joe Biden Anfang Juni vorgelegte Waffenstillstandsplan, der im UNO-Sicherheitsrat bei einer Enthaltung durch Rußland als Resolution 2735 am Mittwoch angenommen wurde, ist bislang ohne Folgen geblieben. Der angeblich von Israel stammende Plan wird von der Netanjahu-Regierung dementiert und abgelehnt, während die Hamas sich mit einigen Änderungen ausdrücklich positiv auf die UNO-Resolution bezogen hat. Das machte in einer Ansprache zum Opferfest am Sonntag erneut der Vorsitzende des Hamas-Politbüros, Ismail Haniyeh deutlich.
Den angeblich israelischen, tatsächlich aber eigenen Plan für einen Waffenstillstand in Gaza dem UNO-Sicherheitsrat zur Abstimmung vorzulegen, war von vielen Vertretern des UNO-Gremiums als Zumutung angesehen worden, nachdem die USA jede bisherige Initiative für ein Ende des Krieges in Gaza im Sicherheitsrat blockiert hatte. Rußland enthielt sich der Stimme, während die anderen Ratsmitglieder zustimmten, um nach bisher elf vergeblichen Resolutionen endlich einen Waffenstillstand mit Zustimmung der USA zu erreichen.
Deren Außenminister Antony Blinken reiste medienwirksam kurz darauf mit der UNO-Resolution in der Tasche nach Ägypten, Israel, Jordanien und Katar, um dort die Unterhändler der Hamas zu drängen, die Verhandlungen zu beschleunigen. Diese hatten Anfang des Jahres bereits einen ähnlichen Drei-Phasen-Plan vorgelegt, der von Israel und den USA abgelehnt worden war. Resolution 2735 läßt allerdings Israel ein großes Schlupfloch. Phase 2 soll demnach erst eintreten, wenn Israel zugestimmt hat. Das, da sind Beobachter sich einig, wird nicht eintreten, solange Netanjahu weiter Regierungschef ist. Er lehnt den Plan ab und wiederholt als Kriegsziel fortwährend den »totalen Sieg« und die Eliminierung der Hamas.
Gideon Levy von der Zeitung »Haaretz« sagte dazu in einem Interview mit dem Al Jazeera Englisch, der in Israel verboten ist, die Israelis fragten sich, wie lange dieser Krieg weitergehen solle und warum. »Es könnte ein endloser Krieg werden, ein Abnutzungskrieg (….). Wir werden nie diesen lächerlichen “totalen Sieg” erreichen, über den Premier Netanjahu redet.«
Kriegskabinett aufgelöst
Am Montag wurde bekannt, daß Netanjahu das Kriegskabinett aufgelöst hat. Das Gremium war kurz nach dem 7. Oktober 2023 gegründet worden, um »nationale Einheit« zu demonstrieren. Es bestand aus Netanjahu, Kriegsminister Yoav Gallant, Kabinettsminister Benny Gantz und dem ehemaligen Armeechef Gadi Eisenkot. Nachdem Gantz und Eisenkot das Gremium verlassen haben, weil Netanjahu sich weigerte, einen Plan für den Gazastreifen nach dem Ende des Krieges vorzulegen, versuchten unbestätigten Berichten zufolge offenbar die beiden Rechtsaußenminister der Regierung, Itamar Ben-Gvir (Nationale Sicherheit) und Bezalel Smotrich (Finanzen), beizutreten. Es wird vermutet, daß Netanjahu sich zukünftig auf einen Kreis ausgewählter Berater verlassen will.