Israel in der Sackgasse
Das Kriegskabinett um den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu hat sich in eine Sackgasse manövriert. Fast drei Monate nach dem Angriff der Qassam-Brigaden und des palästinensischen Jihad auf die östliche Umgebung des Gaza-Streifens hat die »Selbstverteidigung« der israelischen Streitkräfte außer Tod und Verwüstung nichts erreicht.
Die Freiheit der verbliebenen rund 140 Geiseln, die noch im Gaza-Streifen festgehalten werden, rückt mit jedem weiteren Tag des Krieges in weite Ferne. Drei der Geiseln, die ihren Aufpassern entfliehen konnten und sich mit bloßem Oberkörper, einer weißen Fahne (!) und Hilferufen in Hebräisch israelischen Soldaten zeigten, wurden sogar von denen, die sie eigentlich retten sollten, »versehentlich« erschossen.
Israelische Medien schreiben ungeschönt über die Folgen, die der Gaza-Krieg für die israelischen Soldaten hat. Die Golani-Brigade, eine Sondereinsatztruppe, mußte sich nach dem Verlust von elf ihrer Soldaten zurückziehen. Die Zahl der in Gaza getöteten israelischen Soldaten stieg am Donnerstag auf 164. Mehr als 5.000 Soldaten wurden nach Angaben des israelischen Nachrichtenportals Ynet News verletzt, 2.000 von ihnen wurden offiziell als »kriegsversehrt« eingestuft. Die israelische Tageszeitung »Haaretz« berichtete, 18 Prozent der Soldaten, die im Gaza-Streifen eingestzt sind, hätten psychische Probleme und litten unter posttraumatischen Belastungsstörungen.
Zusätzlich zum Gaza-Krieg wird die israelische Armee auch von den Hamas-Verbündeten im Libanon, im Jemen, im Irak und in Syrien erheblich unter Druck gesetzt. Die »Achse des Widerstandes«, die von dem iranischen General Qassim Solimani seit Beginn des völkerrechtswidrigen USA-Krieges gegen den Irak 2003 aufgebaut wurde, soll den Vormarsch der USA in der Region zurückdrängen. Das betrifft auch und vor allem Israel, den engsten Verbündeten der USA in der Region.
Seit Beginn der Angriffe gegen Gaza haben die libanesische Hisbollah, die jemenitischen Houthis sowie irakische und iranische Milizen militärische Ziele der USA und Israels unter Beschuß genommen. Die Houthis greifen im Roten Meer Schiffe an, die Waren nach Israel oder zu israelischen Verbündeten in Europa transportieren. Große Transportunternehmen mußten reagieren und lassen ihre Containerschiffe den Umweg über das Horn von Afrika nehmen. Einer von den USA in Eile geschmiedete Allianz zur Abwehr der Drohnen und Raketen auf Schiffe im südlichen Roten Meer gehört keiner der großen Golfstaaten an. Frankreich, Italien und Spanien haben ihre Teilnahme eingeschränkt. Man sei bereit in der Region unter dem Kommando der UNO, der NATO und der EU zu operieren, nicht aber unter einem Kommando der USA, hieß es unter anderem aus Madrid.
Waffenstillstandslinie unter Feuer
Die libanesische Hisbollah führt seit dem 8. Oktober Entlastungsangriffe gegen die israelischen Truppen. Die gezielten Angriffe richten sich gegen israelische Militär- und Überwachungsbasen südlich der »Blauen Linie«, die eine von der UNO festgelegte Waffenstillstandslinie zwischen Libanon und Israel markiert. Die Angriffe binden nach Hisbollah-Angaben 30 Prozent der israelischen Armee im Norden. Rund 80.000 Siedler, die in dem Gebiet gelebt und gearbeitet haben, wurden evakuiert und zeigen kein Interesse an einer Rückkehr.
Am Mittwoch reagierte die Hisbollah mit einem Raketenbeschuß auf den Tod von Zivilisten, die bei israelischen Angriffen auf verschiedene Orte im Südlibanon während der Weihnachtstage getötet worden waren. Die genaue Video-Dokumentation ihrer Angriffe und die jeweiligen Stellungnahmen seitens der Hisbollah werden in Israel genau verfolgt und setzen dessen Streitkräfte unter Druck.
Ziel der insgesamt sechs Angriffe waren eine Stellung nahe am Mittelmeer, Unterkünfte und Bunker für Sondereinsatzkräfte sowie israelische Truppen und Fahrzeuge auf den Sheeba-Höfen, die von Libanon beansprucht werden. Als Vergeltung für einen Angriff auf ein Haus in Bint Jbeil, in dem zwei Brüder und die Ehefrau des einen getötet wurden, feuerte die Hisbollah 30 »Katjuscha«-Raketen auf die israelische Siedlung Kiryat Shmona. Die beiden Brüder hatten die libanesische und die australische Staatsangehörigkeit. Während der eine erst vor wenigen Tagen in den Libanon gekommen war, um seine Ehefrau abzuholen und mit ihr gemeinsam wieder nach Australien zu fliegen, gehörte der andere der Hisbollah an.
Israels Kriegsminister droht mit Einmarsch
Nach Ansicht von Minister Benny Gantz müsse die Lage an der Nordgrenze zum Libanon »sich ändern«. »Die Zeit für diplomatische Lösungen läuft aus«, warnte Gantz. Diplomaten aus den USA und aus EU-Staaten drängen bei Gesprächen im Libanon auf den Rückzug der Hisbollah nördlich des Litani-Flusses, um eine Ausweitung des Gaza-Krieges zu verhindern. Israel fordert eine entsprechende »Pufferzone«, die einer entmilitarisierten Zone entsprechen würde, wie es die UNO-Sicherheitsratsresolution 1701 aus dem Jahr 2006 festlegt. Die Hisbollah lehnt das angesichts der anhaltenden israelischen Bedrohung des Libanon ab.
Sollte die Welt nicht auf die Angriffe der Hisbollah reagieren, werde die israelische Armee dort einmarschieren und die Hisbollah von der Grenze zurückdrängen, drohte Gantz. Gleichzeitig betonte er die Entschlossenheit des Kriegskabinetts, alle Geiseln vom 7. Oktober zurückzubringen. Der Krieg gegen die Hamas mache »Fortschritte«, wie es der Plan des Oberkommandierenden der Israelischen Streitkräfte, Herzi Halevi vorsehe, dagte der Kriegsminister. Generalstabschef Halevi hatte am Mittwoch bei einem Truppenbesuch in der Nordzone erklärt, die Armee sei bereit, den Kampf gegen die Hisbollah auszuweiten. Entsprechende Pläne seien bewilligt, das Nordkommando sei in Alarmbereitschaft.
Gantz betonte, man sei nicht im Kriegskabinett, um dort zu bleiben, sondern um »den Krieg zu gewinnen«. Der Krieg in Gaza werde fortgesetzt und könnte ausgeweitet werden. Zuletzt hatte die israelische Luftwaffe auch palästinensische Gebiete im besetzten Westjordanland bombardiert.
Forderung nach Waffenstillstand
Inzwischen werden Forderungen hochrangiger Politiker nach einer Waffenruhe immer lauter, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron betonte in einem Telefonat mit Netanjahu, ein »dauerhafter Waffenstillstand« sei notwendig. Dieser solle »mit Hilfe aller regionalen und internationalen Partner« erreicht werden, teilte das Büro Macrons mit.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO warnte angesichts von Hunger und andauernden Kämpfen vor »ernsten Gefahren« für die Menschen im Gazastreifen. WHO-Direktor Tedros Adhanom Ghebreyesus betonte: »Was wir jetzt dringend brauchen, ist ein Waffenstillstand, um die Zivilbevölkerung vor weiterer Gewalt zu bewahren und den langen Weg zu Wiederaufbau und Frieden zu beginnen.«
Die UNO kritisiert zudem »unrechtmäßige Tötungen« im besetzten Westjordanland. In einer Erklärung des Vorsitzenden des UNO-Menschenrechtsbüros Volker Türk hieß es, das Vorgehen der israelischen Streitkräfte sei »beunruhigend«. Mehr als 2.550 Palästinenser wurden seit dem 7. Oktober von den israelischen Besatzungstruppen im Westjordanland festgenommen, etwa 1.300 von ihnen sollen Kontakte zur Hamas gehabt haben. Nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums wurden im Westjordanland in dieser Zeit 300 Palästinenser getötet.