Ausland05. Dezember 2023

Durchbruch in der Ukraine scheint in weiter Ferne

von dpa/ZLV

Der ukrainische Versuch einer »Gegenoffensive« ist vorerst gescheitert. Ein militärisch wichtiger Durchbruch zum Asowschen Meer – quer durch den Landkorridor zur Halbinsel Krim – scheint in weiter Ferne. Gut 21 Monate nach dem russischen Eingreifen in den seit 2014 tobenden Krieg machen sich Ratlosigkeit und Nervosität in Kiew breit, während westliche Hilfe nachläßt. Der Ukraine fehlt es an Waffen, Munition, Geld und in absehbarer Zeit auch an Soldaten.

»Wir müssen auf die Langstrecke vorbereitet sein«, sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg jüngst in Berlin. Der Verlauf des Krieges sei nicht vorhersehbar, doch seien »Geschehnisse rund um einen Verhandlungstisch untrennbar verbunden mit der Situation auf dem Gefechtsfeld«. Der russische Präsident Wladimir Putin müsse erkennen, »daß er auf dem Schlachtfeld nicht gewinnen« könne.

Von einer empfindlichen Niederlage ist Putin aber weit entfernt. Nach Kämpfen bei Kiew, Charkow und Cherson hatte Kiews Oberkommandierender Waleri Saluschni vor einem Jahr im britischen »Economist« gesagt: »Ich brauche 300 Panzer, 600 bis 700 Schützenpanzer, 500 Haubitzen. Dann ist es komplett realistisch, zu den Linien vom 23. Februar zurückzukommen.« Anfang des Monats sagte er nun der Zeitschrift: »Es wird höchstwahrscheinlich keinen tiefen und schönen Durchbruch geben«. Von einem »Patt in einem Stellungskrieg«, ähnlich wie im Ersten Weltkrieg, ist nun die Rede.

Der ukrainische Vorstoß blieb stecken. Zwar meldete Saluschni pünktlich zum ukrainischen Unabhängigkeitstag am 24. August noch die »Rückeroberung des Dorfes Robotyne« im Süden. Seitdem gab es dort jedoch kaum noch Bewegung und die für den Vormarsch wichtige Stadt Tokmak liegt immer noch gut 20 Kilometer entfernt.

Inzwischen machen sich Soldaten in der ukrainischen Presse verärgert Luft. So sagte der in Deutschland ausgebildete Kompaniechef Mikola Melnik dem Internetportal »censor.net«: »Der gesamte Plan der großen Gegenoffensive basierte auf einfachen Dingen: die Moskowiter/Russen sehen die Bradley, Leopard und hauen ab. Das ist es.« Seine neu aufgestellte 47. Brigade habe Robotyne bereits am ersten Einsatztag nehmen sollen. Stattdessen brauchten die ukrainischen Truppen gut zweieinhalb Monate. Die Front verläuft bis heute nicht weit von den Ruinen des Dorfes entfernt.

In der Ostukraine setzten die russischen Truppen die ukrainische Armee massiv unter Druck. In der zerstörten Industriestadt Awdijewka sind die ukrainischen Soldaten von einer Einkreisung bedroht. Im Gebiet Charkow hat sich die Front bedenklich der Stadt Kupjansk genähert. Ein waghalsiger ukrainischer Vorstoß im Gebiet Cherson über den Fluß Dnjepr bindet zwar russische Truppen, doch stehen die Ukrainer unter russischem Dauerbombardement – mit hohen Verlusten. Entlang aller Frontabschnitte will der ukrainische Präsident Selenski nun verstärkt »Schutzräume und Befestigungen ausbauen«.

Der deutsche Militärexperte und Ukraine-Kenner Nico Lange will kein »Patt« in der Situation erkennen und bezeichnet die Lage als »dynamisch«. »Was wir erleben werden, hängt auch davon ab, wie wir die Ukraine weiter unterstützen«, sagte er der dpa.

Laut Berechnungen des ukrainischen Journalisten Wolodimir Dazenko lag der Höhepunkt der westlichen Waffenlieferungen im Januar/Februar. Seitdem ebbten die Nachschublieferungen ab. Ukrainische Soldaten klagen über eine stärker werdende russische Überlegenheit bei Überwachungs- und Angriffsdrohnen in Frontnähe. Russische Störsignale verhindern teils den Einsatz westlicher Präzisionswaffen. Bei der ukrainischen Luftverteidigung hängt alles am westlichen Nachschub.

Die Unzufriedenheit mit dem Kriegsverlauf führt auch zu Spannungen in der Politik. Der Präsident weigert sich, einen Mißerfolg der Gegenoffensive öffentlich einzugestehen. Er wies Saluschni nach dessen Interview deutlich zurecht und warnte die Befehlshaber vor politischen Ambitionen.